Zu Canova und Scarpa nach Possagno

Auf Streifzügen durch die Prosecco-Hügel lohnt sich immer auch ein Abstecher nach Possagno. Dieser am Fuße des Monte Grappa im nördlichen Veneto gelegene Ort gehört ganz und gar Antonio Canova, der 1757 hier geboren wurde. Und seit 1957 auch ein bisschen Carlo Scarpa.

Schon aus der Ferne leuchtet kalkweiß der Tempio Canovano, eine Pfarrkirche von römischer Grandezza, denn der Meister konnte nicht nur klassizistische Skulptur. In der Pasticceria wird das Schaumgepäck Meringa di Canova verkauft. Und im beschaulichen Ortskern verbergen sich hinter einer schlichten Fassade das Geburtshaus des Künstlers und das Museo Gypsotheca Antonio Canova voller Gipsabgüsse.

Wie Kraftprotze aus einem Superhelden-Comic bevölkern heroische Kolosse die als Basilika konzipierte Ausstellungshalle von 1836: Herkules packt Lichas an Schopf und Fuß, spannt ihn kopfüber als wäre er sein Bogen.

Theseus geht einem Zentauren an die Gurgel. Und Napoleon tritt überlebensgroß, nur mit einem Feigenblatt bedeckt, als Friedensstifter auf (nun ja, an der Selbstgerechtigkeit des Franzosen haben sich schon viele Männer abgearbeitet, zuletzt Ridley Scott und sein düsterer Superstar Joaquin Phoenix). Urspünglich war die idealisierte Aktstatue für einen Ehrenplatz auf der Place Vendôme gedacht, doch der Wirbel, den die Marmorskulptur bei ihrer Ankunft in Paris erzeugte, brachte den Kaiser in Verlegenheit, daher verbot er ihre Präsentation in der Öffentlichkeit. Am Ende besiegelte die Schlacht bei Waterloo nicht nur Napoleons Untergang, sondern auch das Schicksal zahlreicher die Bonaparte-Familie abbildender Kunstwerke – und so endete der „Friedensstifter“ als Kriegstrophäe in der Residenz des britischen Generals Wellington.

In den Gipsabgüssen stecken noch die Rèpere, Bronzenägel, die Canova als Bezugspunkte angebracht hatte, um Maße und Proportionen auf den Marmorblock zu übertragen. Mit einem Finish aus Wachs und Pigmenten wollte er den kalten Stein schließlich zum Leben erwecken. Aber seine monumentalen Kerle wirken dennoch in Kraft erstarrt.

Ganz anders die weiblichen Figuren, für die Canova eine weit poetischere Sprache fand. Die Drei Grazien liebkosen sich in einer einzigen fließenden Bewegung. Und wenn Psyche mit spitzen Fingern auf Amors Handfläche einen Schmetterling setzt, wird der Mythos mit einem Mal greifbar und lebendig.

Mitte der 1950er-Jahre betraut man den 1906 in Venedig geborenen Architekten Carlo Scarpa mit dem Erweiterungsbau der Gypsotheca. Er befreit die Skulpturen, zumindest einige von ihnen, aus ihrer Totenstarre, indem er mit Helligkeit, Heiterkeit und Leichtigkeit interveniert. Seine aus den Ecken des Annex in den Raum ragenden Quaderfenster, Splitlevel und Wasserbecken lassen das Museum behaglich erscheinen – und zugleich lush wie eine kalifornische Villa. Amor, Psyche und viele andere Schönheiten baden und tanzen jetzt im Licht.

Auch Canovas kleine, expressive Terracotta-Modelle, die unerwartet modern anmuten, erhalten in neuen Holzvitrinen endlich die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Für diese Sensibilität hätte Antonio Canova seinen Landsmann geliebt. Für seine Ode an die tägliche Wanderung der Sonne auch. Für die Fähigkeit, im Spiel von Licht und Schatten eine ganz eigene Kunst zu erzeugen sowieso.

Heute vor 45 Jahren ist Carlo Scarpa, Schöpfer von Räumen im Licht, im japanischen Sendai gestorben.

Text und Fotos ©Alexandra González

www.museocanova.it/en/

Zu den Gipfeln der Renaissance

Bernardino Licinio, Bildnis einer jungen Frau mit ihrem Verehrer, ca. 1520; Paris, Galerie Canesso
Tizian, Bildnis der Isabella von Portugal (Detail), 1548; Madrid, Museo Nacional del Prado

Was ist das nur für ein tolles Felsmassiv da, neben dem der Maler Tizian 1548 Isabella von Portugal porträtiert hat? Und welcher Alpenberg mag das sein, vor dem der kleine Maggi-Junge (Bild-Detail gleich unten) mit seinen Angehörigen um 1575 vor Tintoretto posierte? „Vielleicht ein ganz realer Gipfel in der Nähe des Anwesens der Familie Maggi in Feltre? Genau wissen wir es nicht“, sagt Sammlungsdirektor Andreas Schumacher, der in der Alten Pinakothek die italienischen Gemälde betreut. „Es wäre bei den Motiven dieser Ausstellung natürlich zusätzlich spannend gewesen, auch diese Details noch herausfinden!“

Tatsächlich würde das die Gebirgskunsthistoriker wie uns von der Alpinen Kultur natürlich schon brennend interessieren! Denn in der neuen Schau „Venezia 500<<“, die heute in der Alten Pinakothek in München begonnen hat, tun sich bald in jedem zweiten der rund 85 Bilder – Grafiken, Zeichnungen und Gemälde aus der Zeit der venezianischen Renaissance – unbekannte Gipfel auf. Entweder zieren sie als alpine Idealkulisse die sakralen, mythologischen oder aristokratischen Personengruppen. Oft aber bilden sie wohl ganz real die in der Nachbarschaft vorgefundene Natur ab. In der Tat ist Venedig von den Dolomiten ja nicht viel weiter entfernt als München von der Zugspitze. Und so wie sich bei uns an klaren Tagen nicht selten eine Alpenkulisse hinter der Stadtsilhouette abzeichnen kann, lassen sich unweit der Serenissima an Tagen mit günstigem Wetter zuweilen die Marmolata oder Teile der Dolomitenkette erblicken. Jedenfalls, wenn man nicht nur auf die Kirchen und in die Wasserwellen der Kanäle schaut.

Giovanni Bellini, Maria mit Kind zwischen Johannes dem Täufer und einer unbekannten Heiligen (Ausschnitt), 1500-1505; Venedig, Galleria Dell´Accademia
Giovanni Battista Cima da Conegliano, Hl. Hieronymus in der Wildnis (Ausschnitt), ca. 1500/05; Washington, National Gallery of Art

In der Schau geht es natürlich erst einmal um ganz anderes als um Bergspitzen. Die Kuratoren ließen nach vierjähriger Vorbereitung 70 Gastgemälde von Tizian, Palma il Vecchio, Sebastiano del Piombo, Mantegna, Bellini und Lorenzo Lotto aus Paris, Madrid, New York, Florenz usw. zum Vergleich nach München transportieren. Und vor allem ließen sie 15 eigene venezianische Renaissancebilder der Alten Pinakothek nach allen Regeln der Technik und der Kunst durchleuchten, restaurieren und stilistisch wie kunsthistorisch neu beforschen. Heraus kam mindestens eine Sensation: Die AP besitzt nämlich offenbar ein zweites Gemälde des genialen, schon 1510 mit nur 32 Jahren verstorbenen Venezianers Giorgione, von dem in der ganzen Welt nur etwa 20 gesichert zugeschriebene Malereien existieren.

Andrea Previtali, Allegorie der Fortuna, ca. 1490; Venedig, Galleria dell’Accademia
Bartolomeo Veneto, Maria mit Kind, ca. 1505; Bergamo, Accademia Carrara

Derweil können wir Bergfexe in der Ausstellung all die wunderbaren venezianischen Zeichnungen und Gemälde mit Hieronymus, der Muttergottes, mit verschiedenen Kalvarienbergen, mit Apollo, Adonis, der Allegorie der Fortuna oder den Adligen der Epoche nach bekannten Gipfeln und Spitzen, Ketten und Hügeln absuchen.

Kein einziges Wasserbild ist in der AP dabei! Auch keine Venedig-Vedute. Denn nie war eine Renaissanceschau über die alten Venezianer alpiner als diese Präsentation, die das damalige Verhältnis von Natur und Landschaft zu Menschengruppen analysiert.

Also welcher blaue Gipfel quetscht sich – siehe Aufmacherbild – unter die rechte Achsel des jungen Edelmanns, der um 1500 auf Bernardino Licinios Tafel von einer sich entkleidenden bella donna hingerissen wird? Was für eine Landschaft ragt da dolomitenhaft hinter Johannes dem Täufer und Maria auf? In welchem Bergdorf zwischen Venetien und Lombardei versteckte sich in dem Gemälde von 1505 Bartolomeo Venetos Maria mit dem Kind? Und was für ein schmuckes Seegebirge – anstatt der trockenen Hügel Syriens und Palästinas – umfängt den Heiligen Hieronymus in der Wildnis? – Ohne Zweifel wartet in dieser begeisternden neuen Münchner Ausstellung zur Zeit mindestens eine Doktorarbeit auf eifrige junge Erforscher der alpinen Natur und Kultur.

Text und Fotos: Alexander Hosch

Ausstellung „Venezia 500<<, Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei“, Alte Pinakothek München, bis 4. Februar 2024

https://www.pinakothek.de/de/venezia500

Palma il Vecchio, Maria mit Kind und den hl. Rochus und Lucia, 1513/15; München, Alte Pinakothek