Es gibt in der Architektur seit langen einen unentschiedenen Streit über die richtige Bauform in Höhenlagen. Die Mehrzahl der Funktionäre und der Baumeister forcieren die immer weitere Ausdehnung der alpinen Siedlungen in die Breite. Das führt jedoch zu noch mehr einzelnen Häusern in der Landschaft. Die andere Fraktion – in der Minderzahl – setzt sich seit mindestens Mitte des 20. Jahrhunderts für die nachhaltige und konsequente Etablierung einer Moderne in Form von Hochhäusern ein. Auch oder gerade in den Hochalpen. Das Ziel: weniger Zersiedelung der kostbaren Natur, weniger Bodenversiegelung. Und in der Konsequenz dann auch weniger Straßenbau. Vorgemacht haben das in Sestriere bei Turin etwa schon um 1940 die Architekten von zwei 16-stöckigen Rundtürmen (einer enthält heute noch das Grand Hotel Ducchi d´Aosta). Beide Türme wurden damals im Auftrag der ehemaligen Besitzer von Fiat, der Familie Agnelli, errichtet. Ebenfalls auf ein alpines Hochhaus setzte – ein gelungenes jüngeres Beispiel – vor rund 15 Jahren am Katschberg der Mailänder Architekt Matteo Thun, als er inmitten des österreichischen Tauerngebirges ein anderes Rundhochhaus für Serviced Apartments baute. Pioniere der Moderne.
Während in den Ostalpen Ideen von Hochsiedlungen aber immer wieder am Geld oder an der zu traditionell denkenden Bevölkerung scheiterten (so etwa Alfons Waldes Plan für eine Siedlung Hochkitzbühel), entwickelte sich Frankreichs hochalpine Landschaft nach dem Zweiten Weltkrieg progressiver: Die Staatsregierung befürwortete und förderte schon zu Zeiten Charles de Gaulles zusammen mit den Touristikern die Idee eines organisierten Frühjahrsurlaubs der ganzen arbeitenden Bevölkerung in den Bergen sowie eines weitgehend problemlosen „Ski in, Ski out“, ohne tägliches Verkehrsaufkommen. Unterstützt vom französischen Staat bauten in-und ausländische Investoren für Einheimische und Urlauber statt unten im Tal oft lieber hoch oben auf dem Berg. Sie entschieden sich zudem häufig für großformatige Neubaukomplexe. Diese nehmen dann zwar viel Platz ein, andererseits überlassen sie aber den Bewohnern und Besuchern den ganzen riesigen Rest der Landschaft als freie Natur. Mit unverbautem Blick können die Menschen dann von drinnen das wichtigste Ziel der Reise genießen: die Berge.
Das war auch das Prinzip der elf Skidörfer rund um La Plagne in der Haute Tarentaise. Und ist es bis heute geblieben. Seit den 1960er entwickelte der Architekt Michel Bezançon dort vom Reißbrett aus neue kleine Dörfer als moderne Skistationen, die jeweils aus großen einzelnen, überirdisch und unterirdisch zusammenhängenden Gebäudestrukturen bestehen. Obwohl es gute Gründe für und auch gegen diese Bauform gibt (etwa die unübersichtlichen Tiefgeschosse, in denen kaum ein Weg oder eine Treppe von der anderen zu unterscheiden ist), befürwortet der Autor dieser Zeilen doch diese Art des alpinen Bauens als die bei weitem angemessenere Variante im Vergleich zum raumfressenden Neubau von Einfamilienhäusern in den Alpen. Denn dafür gibt es in Zeiten allmählich versiegender Schneemassen keinen einzigen ernsthaften Anlass mehr. Die Ausweisung neuer hochalpiner Baugrundstücke dient lediglich noch dem persönlichen Vorteil Einzelner, die aus unterschiedlichen Gründen in der Lage sind, ihre Interessen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. In La Plagne aber kann im Prinzip einfach durch Ausbau – und komplett ohne Neubau – verändert werden.
Es wird in La Plagne und seinen Satellitendörfern – wie Plagne Villages oder Plagne Soleil – so wenig wie anderswo eine einhellige Ansicht über die Schönheit der großen Baustrukturen geben, die oftmals die konstruktivistischen und sozialrevolutionären Ideen ihrer Bauzeit vor 50 Jahren zur Schau tragen. Heute lassen sich jedoch besonders in den Savoyer Alpen einige wesentliche Vorzüge dieser vorausschauenden Bauweise erkennen: Erstens, die Menschen verbringen hier seit Jahrzehnten hoch oben ihren Skiurlaub. 135 Lifte erschließen die 225 Pistenkilometer des – zusätzlich noch mit Les Arcs verbundenen – absolut schneesicheren Skigebiets Paradiski, das bis auf 3.400 Meter reicht. Die Gäste wohnen also nicht wie meist in den Ostalpen unten im Tal, wo sie zur Hochfahrt oft erst einmal ihre Verbrennerautos anwerfen und dabei selbst an Weihnachten häufig die künstlich erzeugten weißen Pistenschneebänder zwischen frustrierend viel Grau und Grün erleben müssen. Zweitens, die unterirdischen Parkplätze und Zugangswege ermöglichen komplett autofreie Skistationen wie Belle Plagne, wo auf 2050 Höhenmetern die Gäste zwischen den Herbergen, Appartements, Restaurants und Geschäften bis fast zu ihrem Hotelbett wedeln können, weil ihnen bis dorthin weder Autos noch Straßen den Weg versperren.
Der nachhaltige Wert einzelner Großgebäude in den Alpen zeigt sich unter anderem darin, dass diese Einheiten nach teilweise mehr als 50 Jahren Betrieb noch immer jedes Jahr viele tausende Wintertouristen aufnehmen. Vornehmlich Familien, aber auch Freundesgruppen. Während in Deutschland die Mittelklasse damit hadert, sich das Skifahren künftig vielleicht gar nicht mehr leisten zu können. Tatsächlich bezeichnet sich La Plagne in seiner aktuellen Werbung als die Skistation mit den meisten Besuchern in der ganzen Welt: 575.000 Gäste besuchen jedes Jahr die insgesamt 11 Skidörfer, aus denen La Plagne besteht. 56.000 Betten stehen dafür zur Verfügung. Selbst in der Tarentaise, die von sportlichen, kulinarischen und architektonischen Superlativen (Tignes, Courchevel, Meribel, Les Arcs, Val d´Isère…) verwöhnt wird, ist das einsame Spitze. Die größte der Baustrukturen von La Plagne – es handelt sich dabei um das architektonisch ikonische Plagne Bellecôte mit diversen Sichtbetontürmen – trägt seit vielen Jahren den Spitznamen Barrage. Auf französisch bedeutet das so viel wie Staumauer. Das ist natürlich Ausdruck einer gewissen Zweideutigkeit. Fest steht indes, dass „die Staumauer“ immer noch jedes Jahr von tausenden ganz normalen Franzosen, Belgiern, Engländern und Skandinaviern bewohnt wird (allerdings nicht mehr so häufig wie früher von Deutschen). Das zweite bekannte große Gebäude des Skigebiets von La Plagne reckt wie ein Kreuzfahrtschiff seine Decks gen Himmel. Es ist dies eine Residenz auf 2100 Metern, in der Appartements, Hotelbetten, Geschäfte, Skiverleihfirmen und andere Läden zusammen untergebracht sind. Dieses – unzweifelhaft sehr elegante – Gebäude von 1969 genießt längst Denkmalschutz. Wenn es stimmt, dass die Menschen Gebäude schätzen, die an ein Tier, eine Pflanze oder an ein Ding erinnern, dann ist vielleicht der Grund dafür gefunden, warum die Menschen das Paquebot des neiges (etwa „Schneekreuzfahrtschiff“ ) in Plagne Aime 2000 sogar noch lieber mögen als ihre Staumauer. Dazu kommt der Vorteil, dass man auf dem benachbarten Gletscher Dôme de Bellecôte (3417 m) noch länger nicht ernsthaft mit Schneeknappheit rechnen muss.
Die Zukunft von La Plagne – und vor allem die der durch Höhenlage verwöhnten Stationen Belle Plagne und Aime 20000 – scheint durch den bis in den Mai zuverlässig auf natürliche Weise fallenden Schnee noch ziemlich lange gesichert zu sein. Als zweite wichtige Säule des künftigen Wintertourismus kommt ein sehr rationaler Umgang mit der Wirklichkeit des Jahres 2024 ins Spiel. Denn angemessenerweise bemüht sich La Plagne schon jetzt um die Wintersportgäste von morgen. Seit 2021 bereitet sich La Plagne intensiv auf das anspruchsvolle, von den Mountain Rivers vergebene Umweltzertifikat Flocon vert vor, das für grüne Verdienste im Skibetrieb verliehen wird. Es gibt in Deutschland, Österreich oder der Schweiz nichts Vergleichbares. Man hat den Kampf aufgenommen und ist – anders als viele Nachbarskiorte – mit einem ehrgeizigen Umweltschutzprogramm in den Wettbewerb um das grüne Siegel eingestiegen. Die Verantwortlichen haben für die Saison 2023/24 nun schon zum zweiten Mal eine 50-seitige Broschüre produziert, in der sie ihre Mitarbeiter auf Nachhaltigkeit einschwören, ihre zahlreichen Schritte in Richtung Biodiversität erklären, intensiv Gäste und Gastgeber sensibilisieren sowie ihre Maßnahmen zur Verringerung des CO2-Ausstoßes und zur Verbesserung der Qualität des lokalen Lebens skizzieren. Kreislaufwirtschaft, Reduktion von Strom und Treibstoff, Vermeidung von Mikrokunststoff im Trinkwasser sind nur einige der Ziele, die alle Lebensbereiche betreffen. Das ist umso bemerkenswerter, als viele andere Skiorte in den Alpen noch immer glauben, das nicht tun zu müssen und es an Demut vor der zu schützenden Natur mangelt.
Dazu kommt der ganz normale Skispaß. Ganz oben in Belle Plagne lebt man, zum Beispiel im Hotel Eden des Cimes, vergnügt in einer komplett weißen Schneelandschaft und auf Augenhöhe mit den Skigipfeln von Grande Rochette und Roche de Mio. In mondänen Pistenlokalen wie dem Plan Bois genießt man mittags zum Steak im Freien einen Extrablick auf Europas höchsten Berg, den Mont Blanc. Und nur etwas tiefer, nahe Plagne 1800, wo vor mehr als 30 Jahren die olympische Bobbahn der Winterspiele von Albertville angelegt wurde, darf jede:r den hochdramatischen Parcours mit den 19 Kurven testen.
Anders als die italienischen Veranstaltungsorte vergangener Olympiaden (und auch als einige französische wie Courchevel) haben die Verantwortlichen in La Plagne ihre alte olympische Stätte nicht verkommen lassen. Sie nutzen sie vielmehr weiter für Wettbewerbe. Und sie geben sie – mit extra entwickelten und gesicherten Spezialschlitten – zum Gaudium der Allgemeinheit die ganze restliche Saison für jenen Teil der Bevölkerung frei, der schon lange mal Lust hatte, es den Tollkühnen in ihren beinahe fliegenden Schalen gleichzutun. Dort darf jedefrau und jedermann – eben alle, die sich trauen – eine Fahrt über die originale olympische Rennstrecke mit einem erfahrenen Bobpiloten oder einem automatisch gesteuerten Gefährt bei Geschwindigkeiten zwischen 80 und 120 km/h wagen. Olympia ist hier im Alltag der Bewohner von La Plagne angekommen. Sie sind stolz auf diese Vergangenheit. Auch deshalb hat sich Frankreich – mit Nizza für das Olympische Dorf und mit La Plagne (samt der alten als der neuen Bobbahn) – gerade wieder für die Winterolympiade 2030 beworben. Der Erfolg wäre ganz allgemein ein Segen für die Nachhaltigkeit der Olympischen Spiele.
Text und Fotos: Alexander Hosch
Der Skipass für La Plagne im Gebiet Paradiski kostet in der Saison 2023/24 pro Tag für Erwachsene 65 €, für Kinder 52 €. Die Skisaison dauert dort noch bis zum 28. April. Das kürzlich renovierte Hotel Eden des Cimes **** in Belle Plagne bietet im April 2024 zwei Nächte mit Halbpension für zwei Personen im Doppelzimmer für 580 €. Appartements in der Residenz Paquebot des Neiges in Plagne Aime 2100 waren Anfang April auf verschiedenen Plattformen ab 98 € pro Tag zu buchen.