Gesicht der Erinnerung

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm #22

Was ist, wenn die Menschen, die man zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Leben liebt, eigentlich immer ein und dieselbe Person sind? Das fragt sich die Hauptdarstellerin von Dominik Grafs Fernsehfilm Gesicht der Erinnerung. Manches darin erinnert an die Totenwelt-Psychologie in Alfred Hitchcocks Vertigo, anderes an Krzysztof Kieslowskis Drei-Farben-Trilogie. Zeiten verschwimmen, Menschen auch. Szenen von jetzt – wie eine ganz normale Autofahrt – werden zu Flashbacks.

Christina (großartig: Verena Altenberger) hatte mit 16 Jahren eine große Liebe, den verheirateten Jacob (Florian Stetter), der bei einem Unfall stirbt, den sie seither aber immer wieder sucht. Neuanfänge werden zu Déjà-vues für sie, Christina verfängt sich zwischen Alkohol, Tabletten, Vorstellungen und Verzweiflung. Nun, 20 Jahre später, scheint sie auf Jacobs Wiedergänger zu treffen: in der Gestalt des jungen Patrick (Alessandro Schuster), der sie nachts mit seinem Auto vor einem Gewitter rettet. Tabula rasa – ein Schluss mit dem Gestern! – wäre wohl die Rettung für Christina. Aber das scheint unmöglich. Alles – Worte, Taten, Gesten, Andeutungen, Merkmale von Sprache und Charakter – führt sie geradewegs in eine Zukunft, die die Vergangenheit ist.

Der 89-Minüter wurde vergangenen Juni in der Sektion Neues Deutsches Fernsehen auf dem Filmfest München uraufgeführt und Anfang 2023 schon in der ARD gezeigt. Wie es dem Filmregisseur Dominik Graf bei TV-Ausflügen immer wieder gelingt, biederen deutschen Sonntagabend-Fernsehroutinen zu entfliehen, etwa in seinen Tatort– oder Polizeiruf-Folgen, ist großer Genuss. Auch hier. Alte Verhängnisse und neue Vermutungen übernehmen schnell das Zepter. Die eigentliche Handlung bleibt ein sanfter Strom im Hintergrund. Und Verena Altenberger, die schon ein paar Mal Grafs Polizeiruf-Kommissarin war, irrlichtert dazwischen. Mit klarem Blick, aber mit unklarem Sinn.

Das eindrückliche Mystery-Spiel läuft vor der Silhouette Salzburgs ab, das neben dem nahen Sankt Johann im Pongau und einzelnen Berglandschaften seinen Platz als charmante Alpenhauptstadt einnimmt. Ein paradiesischer Sommerwald spielt eine Rolle. Eine Schlucht und ein kleines Bergdorf in Italien werden spät ein kurzes, zweites Zentrum dieser paranormalen Filmstory. Drehorte dafür hatte man natürlich rund um die Salzachstadt genug, man fand sie daneben aber auch in Bayern und Tirol. Der Zuschauer fühlt sich definitiv immer wieder mehr an alte Autorenfilme erinnert als an aktuelle Beziehungsdramen, und das ist sehr gut so. Oder an die Romane von Max Frisch, in denen oft Menschen von früher in Leuten von später auftauchen oder aufzutauchen scheinen. Bis die Personen durch das raffinierte Identitätswirrwarr restlos im Nebel zwischen Fantasie und Wirklichkeit verschwunden sind. Die Realität ist eben auch nur ein Vorstellung.

Text:  Alexander Hosch

Gesicht der Erinnerung von Dominik Graf, 2022. Die Produktion des SWR mit dem Österreichischen Rundfunk für das Erste ist bis 8. Mai in der ARD-Mediathek abrufbar. Bis 12. Februar 2024 läuft sie als Angebot des Digitalprogramms One. 

https://www.ardmediathek.de/video/filmmittwoch-im-ersten/gesicht-der-erinnerung/das-erste/

Alfred Hitchcock: The Man Who Knew Too Much (1934)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Die heimlichen Alpenfilme #4

The Man Who Knew Too Much stellte Peter Lorre 1934 erstmals in einer internationalen Produktion vor. Der deutsche Schauspieler ist in Hitchcocks Engadin-Film höchst sehenswert (auch wenn ihn die Coverzeichnung der DVD hier irritierenderweise als Mörder „M“ in Fritz Langs gleichnamigem Schocker zeigt)

vignette_film4_rz Dieser englische 75-Minuten-Thriller entstand kurz nach der Stummfilmzeit. Und somit lange ehe der Regisseur Alfred Hitchcock seine Hollywood-Klassiker drehte. Dennoch ist The Man Who Knew Too Much schon ein echter Hitchcock geworden. In eine Spionage-Handlung wird subtil das psychologische Drama einer Londoner Familie, die ihr Kind retten will, hineingestrickt. Beim Winterurlaub in St. Moritz haben Mr. und Mrs. Lawrence (Leslie Banks und Edna Best) den charmanten französischen Skispringer Louis kennengelernt, der während des Tanzes mit der Ehefrau Lawrence durch ein Hotelfenster hindurch erschossen wird. Er hinterlässt ihr eine geheime Botschaft, wegen der aber dann ihre Tochter Betty gekidnappt wird. In London – genauer: beim Konzert in der Royal Albert Hall und bei einem Feuergefecht – löst der angehende Meisterregisseur den Plot im zweiten Teil des Films dann nach allen Regeln des Suspense auf. Zuletzt analysierte Philosoph und Psychotherapeut Slavoj Zizek in mehreren Aufsätzen, wie bravourös Hitchcock gerade in diesem frühen Film sein Konstrukt mit hintersinnigen Details anfüllte – kleine Allegorien, Symbole, Übertragungen und Traumata. Während des Tanzes mit dem Franzosen im Hotel etwa löst sich durch einen

Hier die deutsche DVD. Rechts der Regisseur, der Der Mann, der zu viel wusste gleich zweimal verfilmte. Also Vorsicht beim Einkauf: Denn die Schauplätze waren andere, und James Stewart und Doris Day mimten 1956 nicht in der Schweiz, sondern in Marokko.

Drehbuch-Kniff langsam und vieldeutig der Wollpullover auf, den Mrs. Lawrence gerade für den Fremden strickt – der Ehemann hat dem Tanzenden nämlich einfach die Stricknadel in der Sakkotasche fixiert. Den Plot fand der Regisseur übrigens so großartig, dass er ihn 22 Jahre später mit Doris Day und James Stewart noch einmal verfilmte. Hitchcock selbst, der hier den Deutschen Peter Lorre als wunderbaren Schuft Abbott international einführte, kam übrigens extrem gern zum Urlauben ins Engadin und besonders nach St. Moritz. Dort fielen ihm oft die besten Szenen ein. Und im Badrutt´s Palace (wo er 45 Jahre lang immer dieselbe Suite gebucht haben soll) hat er auch  geheiratet.     Alexander Hosch