Meister des Alpenveilchens

Die Alpenveilchen, auch Zyklamen genannt, haben es gern ein bisschen schattig und gehören als Pflanzengattung in die Unterfamilie der Mysteriengewächse. Und da sind wir dann schon ganz nah bei jenem üppigen Stoffmuster, das Hermann Obrist im Jahr 1896 auf einem Wandbehang mit Alpenveilchen in der viel beachteten Schaufensterauslage des Münchner Kunst-Salons Littauer zeigte: Eine goldfarbene Seidenstickerei prangte auf einer fast zwei Meter hohen Stoffhülle aus Wolle. Prompt wirkte der opulente Kurvenschwung auf die Passanten am Odeonsplatz wie eine Dynamitladung. Der Entwurf wurde sogleich stilistisch mit einem Peitschenhieb assoziiert. Und, schwups, war aus einem hübschen Ornament das Gründungsmanifest des Jugendstils geworden. Im behäbigen Münchner Gestaltungs-Einerlei kurz vor der Jahrhundertwende mit seinen vielen Neostilen kam dieses Fanal wie gerufen.

Alpenveilchen sind Primelgewächse und vor allem im Mittelmeerraum, in den Süd- und Ostalpen zuhause. In der Tat war Obrists florale Etüde aber mehr ein abstraktes Symbol als eine realistische Vorlage. Die Stickerin Berthe Ruchet hatte es aus dem Helldunkellontrast eines zwischen Licht und Schatten changierenden Seidenfadens komponiert. Ungewohnt kraftvoll, überschwänglich, fast übertrieben schnörkelig. So setzten sich Obrists gezeichnete oder gestickte Feuerlilien und andere zarten Blumen früh als Inbegriff des Münchner Jugendstils durch. Sie wurden Zeichen für die Abkehr von Industrialisierung und grauer Vorstadt sowie für die Zuwendung zu einer neuen schwelgerischen Epoche, die dem Historismus in Architektur, Kunst und Kunsthandwerk den Kampf ansagte.

Aber waren die Münchner Jugendstilkünstler dann alle Naturburschen? Keineswegs. Es ging mehr um Eskapismus und eine Flucht nach innen. Typische Motive waren schöne Frauen mit wallenden Haaren, atemberaubend attraktive, grotesk-geformte Tiere, Mischwesen. Oder bunt stilisierte Pflanzen, die in Form von Möbeln, Leuchtern oder Kerzenhaltern mit girlandenhaften Extremitäten eine herbeigesehnte Natur spiegelten. Ihre Naturerfahrung fanden Maler wie Franz von Stuck, Karikaturisten wie Olaf Gulbransson oder Thomas Theodor Heine, Architekten wie Martin Dülfer und Theodor Fischer eher im Salon als in der Wildnis. Ihre Kunst war ein städtischer Stil – so etwas wie die Urban Art der Jahre um 1900. Auch ihre auf Fassaden in Schwabing, am Harras, auf der Ludwigshöhe, in der Maxvorstadt projizierten Tiere und Lebewesen – Drachen, Lindwürmer, Nixen, Elfen – stammten eher aus Fabeln und Sagen als aus dem realen heimischen Wald. August Endells berühmte farbige Wanddekoration, die bis 1939 das Fotostudio Hofatelier Elvira an der Von-der-Tann-Straße zierte, wurde von zwei Bühnenbildnerinnen jetzt extra für die neue Schau farbig und in Originalgröße nachgebaut. Beispiele für die reale alpine oder voralpine Kultur gibt es aber auch – etwa das Gemälde einer Badenden von Leo Putz oder Plakate nebst Gefäßen, die an die Jugendstilzeit in den Keramischen Werkstätten in Herrsching am Ammersee erinnern.

Wie die meisten der 450 Exponate in der seit heute offenen Ausstellung Jugendstil. Made in Munich in der Münchner Kunsthalle stammt Hermann Obrists Wandbehang aus dem Besitz des Stadtmuseums, das derzeit wegen Renovierung geschlossen ist. Die von Hängepflanzen zugewucherten Höfe rund um die Kunsthalle München sind auch deshalb jetzt für das nächste halbe Jahr der Idealort für Einblicke in den Jugendstil! Die Schau lässt Räume aus längst nicht mehr existenten Münchner Jugendstilhäusern in einer Art Reenactment mit Originalinventar wiederauferstehen, und sie organisiert im Nebenprogramm Spaziergänge zu den vielen noch existierenden Bauten aus der Zeit. Von einem mehr wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, bewerten die Aufsätze im Katalog unter anderem den hohen Abstraktionsgrad neu, der im Münchner Jugendstil angelegt war.

Der Wille, Neues und Niedagewesenes zu erschaffen, zeigte sich vor allem bei Hermann Obrist, der auch in puncto florale alpine Kultur unser Mann in der neuen Ausstellung ist. Siehe etwa links die rätselvolle Gipsskulptur Modell Bewegung von 1914, die schon als Spirale, Wendeltreppe und Muschel apostrophiert worden ist. Obrist, in der Nähe von Zürich geboren, war ursprünglich Naturwissenschaftler und Medizinstudent gewesen, ehe er sich schließlich der Bildhauerei ( Grabmäler, Brunnen und Skulpturen) sowie Möbeln und allerlei Stoffdesigns zuwandte. Er war zutiefst vom britischen Arts and Crafts Movement beeinflusst. In Florenz gründete er ein Stickereiatelier mit italienischen Kunsthandwerkerinnen, die er dann 1895 mit nach München brachte. Seine Motive gehen mehr als die der anderen Münchner Künstler von tatsächlicher Natur aus und führen diese ins Visionär-Expressionistische weiter: Pilze, Kristalle, mit Dornen und Blüten bewachsene Zacken, eine Felsgrotte mit loderndem Fluss und organisch wucherndes Grün bevölkern Obrists Zeichnungen, die zu den stärksten Arbeiten der Münchner Schau gehören. Zu sehen bis ins Frühjahr mit all den anderen faszinierenden Schätzen und Mysteriengewächsen von Richard Riemerschmid, Bernhard Pankow, Otto Eckmann, Bruno Paul, Peter Behrens und vielen anderen!

Text und Fotos: © Alexander Hosch

„Jugendstil. Made in Munich“, Kunsthalle München, bis 23. März 2025.

Mit Objekten aus dem Kunsthandwerk, aus Skulptur, Malerei, Grafik, Fotografie, Mode und Schmuck, www.kunsthalle-muc.de