Goethe taucht im Urmeer

 

Als ich im Goethehaus Weimar die Aufsicht bitte, eine der Schubladen in den Sammlungsschränken zu öffnen, muss ich sofort an die Alpen denken und hoffe, hier ein steinernes Souvenir zu finden. Doch sie schüttelt verlegen den Kopf. Das habe so lange niemand mehr getan, sie können mir nicht sagen, was in den Schubladen sei. Wir erfreuen uns also nur an den in den verglasten Aufsätzen sichtbaren Schaustücken aus Goethes geowissenschaftlicher Schatzkammer, aber eines wird auf unserem Rundgang durch das überraschend behagliche Domizil am Frauenplan immer offensichtlicher: Dieser Mann war als Universalgelehrter ebenso bedeutsam wie Leonardo. Behauptet zumindest meine Freundin S., mit der ich durch die von der milden Spätsommersonne zum Leben erweckten Räume streife. Kennen den Weimarer Geheimrat und Dichterfürsten weltweit ebenso viele Menschen wie den Maler der „Mona Lisa“? Wer weiß das schon? Mich interessiert nun aber doch sehr, warum sich der berühmte Italienreisende in die Alpen verliebt hatte: Einfach weil er sich als leidenschaftlicher Geologe und Mineraloge nicht sattsehen konnte an den „grauen Kalckfelsen“ und „höchsten weisen Gipfeln auf dem schönen Himmelsblau“.

Im Herbst 1786 reist er aus dem Norden Richtung Rom und macht sich zwischen München und Bozen unermüdlich Gedanken über den Aufbau der Alpen. (Auf dem sogenannten Goetheweg können ausdauernde Fans auf seinen Spuren von München nach Verona fernwandern.) Als Neptunist ist er davon überzeugt, dass alle Gesteine durch Auskristallisation aus dem Urmeer entstanden sind. Vulkanischen Ursprungs könne der Bozener Quarzporphyr nicht sein. Ja doch, auch ein Genie darf sich irren.

Ab den 1780er Jahren bis zu seinem Tod am 22. März 1832 auf dem Bett seines Weimarer Schlafzimmers vertieft sich Goethe in die Welt der Gesteine und Mineralien, baut thematische Sammlungen auf. Tausende Fundstücke trägt er selbst zusammen und verwahrt sie im blassgrün getünchten privaten Arbeitsbereich (Grün, schreibt Goethe in seiner Farbenlehre, verschaffe dem Auge „reale Befriedigung“) sowie im roten „Steinpavillon“ am Rand seines Bauerngartens.

Derart nachhaltig glüht die Mineralienpassion des wissensdurstigen „Faust“-Schöpfers, dass 1806 der Goethit nach ihm benannt wurde: ein rostbraun schimmerndes und manchmal regenbogenfarben irisierendes Eisenerz, dessen langgestreckte Kristalle wie Nadeln aus dem Gestein wachsen. Goethit ist häufig mit anderen Mineralien vergesellschaftet – so stabil und disziplinübergreifend  stelle ich mir die Denkfreude des Universalgelehrten vor. Womöglich hat meine Freundin einfach recht.

Text und Fotos © Alexandra González

 

Die gastfreundlichste Alpenfestung

vignette_strassenrandperlen4Und schon wieder dran vorbeigefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es überraschende neue Architekturen. Und schöne ältere, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht.  #4

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Objekt Neues altes Gotthard-Hospiz auf dem St. Gotthardpass / Adresse Fondazione Pro San Gottardo, CH-6780 Airolo / Koordinaten N 46.559167°, O 08.561667°/ Bauzeit 1623 bis 2011 / Bau-Grund  Es war mal das „Haus des Priesters“ der hier siedelnden Kapuziner / Aktuelle Nutzung  Stilvolle Übernachtungen; Gotthardkapelle integriert / Öffnungszeiten Sobald der Pass Anfang Mai offen ist – bis er im November wieder schließt; www.gotthard-hospiz.ch / Schönster Augenblick  Auf zwei Rädern über die „Tremola“ hochfahren!

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Warum man immer dran vorbeifährt: Weil jeder im Frühjahr schnell nach Italien möchte. Oder an die Seen im Tessin. Seit 1980 nehmen nur noch die Wenigsten die Passstraße.

 

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss! Im Zug durch den Tunnel fahren kann doch jeder. Schon immer aber stiegen Reisende hier herauf. Ein mythischer Ort seit den Langobarden. Europas Hauptwasserscheide, die direkteste Alpenroute zwischen Nord und Süd. Der Aufstieg des Gotthardwegs begann um 1230. Säumer, Soldaten, Handelskarawanen, Zöllner und Postboten der Habsburger nutzten die Teufelsbrücke über die kaum überwindliche Schöllenenschlucht – und produzierten die ersten Alpen-Staus. Das Hospiz gibt es seit einem Lawinenabgang vom Monte Prosa. Kapuziner bewirteten von da an Passanten, Kaufleute und Pferdekutscher. Goethe übernachtete zwischen 1775 und 1797 gleich dreimal hier.

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Das Gästehaus auf 2090 Meter überdauerte die Zeit der ersten Automobile und immer neue Straßen – bis zum Tunnelbau 1980. Dann verlor es an Bedeutung. Jüngst bauten die straperl_gotthardBasler Architekten Miller Maranta das historischen Erbe um: Sie integrierten die alte Kapelle in den trutzigen Bau, gaben ihm ein wehrhaftes Bleidach nach dem Vorbild der Kathedralen und eine organisch-anthroposophische Form. Die neue Holzständerkonstruktion von 2011, typisch für den Kanton Uri, macht aus dem Innenraum eine Fichtenholz-Wohlfühllandschaft. Mit Traumblicken und integrierter Urgemütlichkeit.

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Wie man hinkommt: Im Winter gar nicht. Nach der Öffnung der Passstraße – in der Regel und je nach Wetterlage ab Anfang Mai – per Auto, Rad, Motorrad, Bus, Taxi oder Camper von Andermatt (Uri) oder Airolo (Tessin) aus.

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(copyright Idee, Text und Bilder: Sabine Berthold & Alexander Hosch)