Zur expressionistischen Fantasie

Kannte der Maler Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) etwa LSD? Nein, das gab es in den 1930er Jahren noch nicht. Aber womöglich hatte er andere Seelentröster, die das Gemüt entgrenzen, die Formen wuchern lassen und dabei helfen, die Farbwelten zum Explodieren zu bringen. Im Gemälde „Scene aus dem Sommernachtstraum“ von 1937, gerade zu Gast in Bernried am Starnberger See, jedenfalls ergießen sich die Pigmente gleichsam in psychedelischen Strömen. Gesichter werden darin eins mit den Bäumen, oder sie zerfließen in Linien am Firmament. Der in Nazi-Deutschland verfemte ehemalige Die Brücke-Star lebte damals in Davos und hat dort bis zu seinem Selbstmord nur ein Jahr später genau so eruptiv gemalt: leuchtend, schwelgerisch, ungebeugt. Allein schon der Blick in diese Farbexplosionen ist allemal die kleine Flucht ins Voralpenland wert, wo das faszinierende Kirchner-Gemälde jetzt zusammen mit nicht weniger als 50 weiteren bis Januar bleibt und den reichen eigenen Bestand des Museums der Phantasie mit Buchheims Expressionistenkollektion ergänzt.

In der Schau geht es in erster Linie um Bilder und ihre Rahmen. Der Münchner Rahmenexperte Werner Murrer hat dieses Verhältnis in langer Geschäftstätigkeit erforscht. Für die Ausstellung „Wiederentdeckt & Wiedervereint“ hat er jetzt mit seinen Co-Kuratorinnen Rajka Knipper und Katharina Beisiegel viele solche Gesamtkunstwerke des deutschen Ober-Expressionisten zusammengetragen. Kirchner nämlich hat die schmückenden Holzleisten um seine Gemälde stets selbst bemalt. Ohne Rahmen war ein Bild für diesen Künstler nicht fertig. Oft tauchten die Palettenfarben des jeweiligen Sujets nochmals an den Rändern, in den Spalten und Falzen auf, in feinen Tönen, manchmal auch in breiten Linien. Um sich auf den getreppten, profilierten oder mit Rundstäben verzierten Leisten als Besonderheit ins Spiel zu bringen. Rund 150 Bild-Rahmen-Paare von Kirchner sind insgesamt bekannt, viele tragen die typische Mischung aus Goldbronze mit abgetöntem Grün oder Blau. Eine der in kühlem Violett gehaltenen Wände der Sonderschau haben die Kuratoren allein mit leeren Rahmen aus Kirchners Nachlass geschmückt – denn manchmal fehlen die vor 90 bis 120 Jahren entstandenen zugehörigen Bilder. Es war die Zeit, als von vielen konservativen Bürgern selbst für moderne Sujets lieber „neobarocke Monsterrahmen“ (so Murrer in seiner Begrüßungsrede) gewählt wurden. Und Kirchners individuelle Originalrahmen – heute ein gesuchter Schatz! – mussten in solchen Fällen dann eben weg, weil sie wohl nicht zur Wohnzimmereinrichtung der Besitzer passten.

Das Ölbild „Blonde Frau in rotem Kleid“ von 1932 aber (siehe Aufmacherbild sowie zwei Ausschnitte in diesem und im mittleren Absatz) ist herrlich komplett. Es stellt hier eines der schönsten Doppelpacks aus Bild und Rahmen dar. In den schlichten goldbronzierten Nadelholz-Rahmen nahm der Künstler grüne, blaue und rosafarbene „Flecken“ und Striche aus der Farbwahl des Gemäldes mit auf und führte das Motiv auf diese Weise einfach über seineen Bildrand hinaus. Wie bei jedem anderen Auftrag hatte Kirchner die Profile selbst in seinem Skizzenbuch vorgezeichnet, die rohen Leisten in Goldbronze gefasst und diese anschließend, in Abstimmung mit dem Gemälde, bemalt. Ein Kunstwerk hörte für Kirchner – spätestens seit er 1918 in die Schweiz emigriert war – definitiv nicht mehr mit dem Bildrand auf. Kirchners spezielle Davoser Rahmen, aber auch simplere Bretter-Rahmen sowie andere Beispiele mit Stufen, Treppen und Eckverbindungen sind an den Wänden dieser überaus sehenswerten Ausstellung natürlich genau erklärt – alpine Reinkultur! Eine tolle Schau, die danach, in veränderter Form, ans Kirchner-Museum in Davos geht.

Text & Fotos © Alexander Hosch

„Wiederentdeckt & Wiedervereint. Rahmen und Bilder von Ernst Ludwig Kirchner“, Buchheim Museum der Phantasie, Bernried, bis 12. Januar 2025, https://www.buchheimmuseum.de/aktuell/2024/wiederentdeckt-wiedervereint

Lawinen über Tolzbad

 Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:                               

Heimlicher Alpenfilm  #20

Zum Tanzen und Lachen ziehen die Bewohner des fiktiven Alpendorfs Tolzbad die dicken Schaffellvorhänge in ihren verschneiten Häusern zu. Derart groß ist die Furcht, dass bereits durch die geringste Erschütterung eine Lawine in Fahrt gebracht werden könnte. „Wenn der Tod seine Hand ausstreckt, wird alles weiß“, heißt es zu Beginn dieser hochkomischen Heimatgroteske des kanadischen Avantgarderegisseurs Guy Maddin aus dem Jahr 1992. In zauberhaften Papiermaché- und Sperrholz- Kulissen erzählt er die Geschichte einer schönen Witwe mit drei Söhnen.

Der Älteste lebt aus mysteriösen Gründen auf dem Dachboden versteckt. Der Zweitgeborene begehrt die Mutter und wird sich nach ihrer gemeinsamen Liebesnacht vom Berggipfel stürzen. Der dritte Sohn – Jahrgangsbester auf dem örtlichen Butler-Gymnasium – besiegelt das Schicksal der Familie mit seinem empfindlichen Ehrgefühl.

„Lawinen über Tolzbad“ zeigt uns eine Welt, die auf der Couch des Doktor Freud zusammengefiebert zu sein scheint. Hinzu kommen etwas Kitsch und Witz, von Maddin mit einer märchenhaften Bildsprache und der Ästhetik von Zwei-Farben-Technicolor in höhere Sphären gehoben. Er erweist sich dabei als Verehrer expressionistischer Filme wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ und des alpinen Stummfilmklassikers „Der heilige Berg“ von Arnold Fanck. Bei Maddin sieht das dann so aus, als wäre in einer Schneekugel gedreht worden. So beengt, so entrückt, so entzückend.

Die Kanadierinnen und Kanadier wissen zum Glück auch heute noch, was sie an ihm haben, diesem Traumwandler durch die Irrgärten des Melodramatischen und feiern Guy Maddin derzeit in Vancouver mit einer Retrospektive.

Text: Alexandra González

DVD „Careful“ (englischer Originaltitel) erhältlich über zeitgeistfilms.com/film/careful

„Celluloid Dreamland: The Cinema of Guy Maddin“, Retrospektive des Kultfilmers vom 26. Januar bis 20. Februar 2023 in The Cinematheque Vancouver, Kanada. Opening Night am 26. Januar in Anwesenheit des Regisseurs.

thecinematheque.ca/series/celluloid-dreamland-the-cinema-of-guy-maddin

Grün-Blauer Reiter

ak_dsc_0124b

Heinrich Campendonk, der jüngste Maler des Blauen Reiter, lugt kaum aus dem Schatten von Marc, Macke, Münter, Klee und Kandinsky hervor – so berühmt sind die Anderen. Das könnte sich jetzt ändern: Am 4. Juni eröffnet das alte Penzberger Stadtmuseum. Mit Anbau und unter neuem Namen.

Man kann dort nun viele kleine Feinheiten entdecken. Wie das ins Treppenhaus integrierte farbige Campendonk-Glasfenster, die typischen schmalen ak_dsc_0193bExpressionistenrahmen aus Weichholz (einer soll sogar von „Brücke“-Kollege Ernst Ludwig Kirchner stammen) oder die realen Berge Benediktenwand und Herzogstand im Hintergrund. Sie geben der Kunst bei jedem Wetter eine charmante Alpenkulisse.

ak_dsc_0215bausschnitt25Mit einer dunkeltonigen, silbern aufblitzenden neuen Klinkerziegel-Architektur, welche die Kubatur eines bestehenden Bergarbeiterhauses verdoppelt, stellt sich die ehemalige Grubenstadt in den Voralpen nun endlich der alten Verbindung zum Blauen Reiter. Die höchst speziellen Penzberger Koloniehäuschen und ihre hügelige bäuerliche Umgebung sind als Staffage auf vielen Gemälden, Zeichnungen und Glasbildern Campendonks zu sehen, von dem die Stadt seit Kurzem mehr Arbeiten als jede andere besitzt – um die 300.

1911 luden die Münchner Avantgardisten den Krefelder Campendonk (1889-1957) zu sich nach Bayern ein. Bis 1922 lebte und arbeitete er in den Voralpen, erst im nahen Sindelsdorf, dann in Seeshaupt am Starnberger See. ak_dsc_0139b
Besonders Klee war ein enger Vertrauter. Campendonk stilisierte seinen Expressionismus bis ans Lebensende, sichtbar beeinflusst von den älteren Malerfreunden, als naiv-geheimnisvolle, oft in grün-blaues Dämmerdunkel getauchte Naturwelt. In den melancholischen, bisweilen auch irgendwie chagallesken Szenerien kommen zu jeder Epoche Mond und Sterne, Kühe, Ziegen, Marionettenfiguren oder liegende Akte vor. Zu sehen und zu schätzen ab sofort 50 Kilometer südlich von München.    Alexander Hosch

Ab 4. Juni: Museum Penzberg – Sammlung Campendonk, Karlstraße 25, 82377 Penzberg; www.museum-penzberg.deak_dsc_0145bk