Moonwalk

Der höchste Berg auf dem Mond heißt Mount Huygens und erhebt sich 5 500 Meter über der Tiefebene des Mare Imbrium. Als Mare Humorum wird eine weitere Formation des Erdtrabanten bezeichnet. Gut sichtbar ist dieses “Meer der Feuchtigkeit” auf einer Heliogravüre des Wiener Astronomen – und späteren Pariser Sternwartendirektors – Maurice Loewy. Die gestochen scharfe Aufnahme bildet den Auftakt zur flamboyanten Ausstellung “ZERO GRAVITY. Apollo 11 and the new notion of space” in der Münchner Eres-Stiftung. Die Schau erkundet, wie sich parallel zur Mondlandung vor genau 50 Jahren neue Konzepte von Raum und Zeit Bahn brachen und bislang geltende Grenzen in Kunst, Architektur, Musik, Film, Design, Wissenschaft und Technik eingerissen wurden. Wer hätte gedacht, dass die kleine Alpenrepublik Österreich bis heute einen bemerkenswerten Anteil an dieser tollen Dynamik  hat? Ein Land der Querdenker eben.

Loewys 1902 im “Atlas Photographique de la Lune” publizierte Aufnahmen dienten als Grundlage für die moderne Mondkartographie. Plötzlich schien der Kosmos zum Greifen nah und zugleich weitete sich der Raum. Eine paradoxe Sensation, die sich mit der Landung des ersten Menschen auf dem Mond fünf Jahrzehnte später ins Spektakuläre steigerte. So schön und vielversprechend sah die Zukunft nie wieder aus. Die Apollo-Mission befeuerte eine alle Lebensbereiche erfassende Aufbruchsstimmung.

Leitmotivisch gleiten Andy Warhols heliumgefüllte “Silverclouds” durch die niedrigen Souterrainräume der Schwabinger Eres-Stiftung. Nicht wiederzuerkennen ist das Gewölbe, nachdem der Tiroler Peter Kogler, der hier als Künstler-Kurator agiert, es mit Spiegelfolie in Millimeterpapier-Ästhetik in ein surreales Raumschiffinterieur verwandelte. Er selbst erinnert sich noch lebhaft an die Mondlandung, die er als Zehnjähriger während seines Adria-Sommerurlaubs im Nachbarhotel verfolgte: “Es gibt niemanden, der nicht wüsste, vor welchem Fernsehapparat er damals saß.”

Für ZERO GRAVITY vermittelte er einige österreichische Positionen von Freunden und sympathischen Visionären nach München, darunter Walter Pichlers “Apparat” von 1966 aus der radikalen Skulpturen-Serie “Protoypen”, Zwitterwesen aus Kunst und Design, in denen der Sound des Space-Age widerhallt. Oder die zwei Jahre später entstandene “Cloud” von COOP HIMMELB(L)AU aus Plexiglas-Halbkugeln. Vollkommen losgelöst von Architekturkonventionen wurde hier etwas Schwebendes, Wolkiges erträumt. Was zählt, sagt Kogler, “ist die Neugier, Dinge durchzutesten, für die es keine Erfahrungswerte gibt”.

So wie das innovative Materialmuster des Wiener Ingenieurs Emilio Podreka. Es besteht aus solargesintertem Granulat, das Mondstaub gleicht und zu Ziegeln verfestigt – mit Hilfe des 3-D-Druckers – neue Habitate auf dem Erdtrabanten ermöglicht. Diese wiederum wären ein Sprungbrett in die Ferne: Der Mond ist heute vor allem als Zwischenstation zum Mars wieder ins Visier gerückt.

Nach dem Leben auf dem Mars fragte bekanntlich auch David Bowie. Ein melancholischer Weltraum-Odysseus wie er darf in der Show nicht fehlen. Wer die Aufsicht nett fragt, bekommt vielleicht Bowies “Space Oddity” in der sehr schicken Dieter-Rams-Phono-Ecke auf den Plattenteller gelegt.

Text und Fotos: Alexandra González

ZERO GRAVITY. Apollo 11 and the new notion of space. 20.7.19 – 01.02.20, mit wissenschaftlichem Begleitprogramm. www.eres-stiftung.de

Nach Castello di Rivoli

Egal wie man in Turin landet – per Flugzeug, Auto oder Zug: Der Weg von München aus ist immer voller Alpenberge. Denn diese Stadt liegt noch näher an den weißen Riesen als München. Und 30 Kilometer westlich, schon in Richtung Sestriere, Aostatal oder anderer Turiner Haus-Skiberge, versteckt sich in den Hügeln ein Backsteinschloss von Filippo Juvarra, das nie fertig wurde. Der Grund: Es war so versailleshaft teuer, dass selbst die Herrscher von Savoyen am Ende nicht mehr zahlen konnten. Die Gipfel dahinter ragen davon unbeeindruckt seit 200 Jahren hoch. Gigantisch nah.

In der Barockruine aber ist – seit man sie 1984 in Form gebracht hat – Italiens ältestes Museum für zeitgenössische Kunst zuhause. Die grandiose Sammlung – dirigiert von der Ex-Documenta-Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev – breitet sich in original stuckierten, aber sonst komplett ausgeräumten Hallen aus und gilt als die beste der Welt, was Italiens Arte Povera angeht (also Jannis Kounellis, Mario Merz, Michelangelo Pistoletto, Giuseppe Penone, Roberto Burri und Co). Und sie ist zumindest erstklassig, was Minimal Art, Land Art und alle Konzeptkünste angeht, die zwischen 1960 und der Gegenwart entstanden. Aktuell stellen Hito Steyerl und Anri Sala aus.

Dem Castello zugeteilt ist seit wenigen Wochen – und das ist ganz und gar unglaublich – eine nur 500 Meter entfernt liegende Schatzkammer der Kunst: die Collezione Cerruti. Bis vor kurzem war das eine Privatvilla. Doch Signor Cerruti vermachte alles an die Öffentlichkeit. Mit dem Shuttle fährt man jetzt in zwei Minuten vom Schloss zur Villa. Drin hat man dann etwa eine Stunde in kleiner Runde. Wofür? Für tausende Kunstschätze – Möbel, Bücher, Gläser, Porzellan, Skulpturen, Gemälde – die nach Quellen der New York Times zusammen 600 Millionen Euro wert sein sollen. Darunter finden sich – auf vier Etagen und 400 Quadratmetern – bestens gesicherte Goldgrundtafeln der frühen Renaissance, Werke von Renoir, Dutzende Arbeiten von Boccioni, Severini, Morandi, de Chririco, Fontana und auch gleich noch von Kandinsky, Klee und Picasso. Aber kaum verlässt der Gast diese Pracht und steht, davon noch ganz benommen, im Garten, übernimmt sofort wieder die alpine Gipfelsilhouette das Regiment, die hier als ständige Dramakulisse funktioniert.

Text und Fotos: Alexander Hosch

https://www.castellodirivoli.org/mostra/

Linzer Mucke

Anton Bruckner wurde hier geboren. Franz Schubert hat mit Blick auf diese Stadt oft Ferien verbracht. Mozart schrieb 1783 in vier Tagen die „Linzer Symphonie“. Und Beethoven vollendete dort 1812 seine Achte – Linz ist eine Musikstadt, schon immer gewesen. Seit 1979 gibt es jedes Jahr rund ums Brucknerhaus, die Donau und das Ars Electronica Center die berühmte “Klangwolke”. In den 1980er Jahren kam die Institution Posthof dazu: ein junger Ort für anspruchsvollen Rock und für Punk-Musik, an dem früh heutige Legenden wie The Fall aus London oder Suzanne Vega aus New York gastierten.

Vor ein paar Jahren hat Linz nochmal nachgeladen. 2013 entstand mit dem Musiktheater am Volksgarten, das der Londoner Architekt Terry Pawson erbaute, jene neue Bühne für Szenisches, die bislang fehlte. Ein Fries aus weißen Klaviertasten scheint das geräumige Haus zu krönen. Die vier verschiedenen Fassadenseiten spielen mit verklammerten Mustern aus Streifen oder Fugen. Technisch ist das Musiktheater eines der modernsten Opernhäuser Europas.

Kurz darauf – 2015 – wurde in den Hügeln, auf halbem Weg zum Pöstlingberg, für 850 Studierende der Anton Bruckner Privatuniversität noch ein ähnlich komfortables neues Gebäude errichtet. Musik, Komposition, Tanz und Schauspiel lassen sich hier studieren. Man kommt von der Stadt aus in zehn Minuten mit der Bergbahn hin, die hier das Trambahnnetz teilt. Der Besucher fühlt sich zwischen den Plastiken des grünen Freigeländes ein bisschen wie in Stanford. Die Gartenbänke auf den kleinen Kiesflächen sehen wie Miniaturgebäude aus. Und die diversen Säle klingen täglich – sei es zur Übung oder zum öffentlichen Genuss. Die Architektur der jungen Lokalmatadoren MOD ist meisterhaft das Nadelstreifenmuster, das in Form schräger oder vertikaler weißer Lamellen mit wechselnden Abständen die Fassade umhüllt, nimmt dem Bau die Masse, gibt ihm dafür durch Kipp- und Schwingmetaphern eine sublime Eleganz. Man sieht von da oben die Donau, die Stadt und gar nicht so selten den fast 3000 Meter hohen Dachstein – Oberösterreichs mächtigsten Alpenberg.

Als wäre das kleine Linz eine Weltstadt, sind an manchen Wochenenden zusätzlich zum permanenten Klassiksturm auch noch Superstars des Pop zu Gast: Am 8. Juni waren etwa die Toten Hosen da, tags darauf Bryan Ferry. So was ist hier normal.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

 

 

 

 

 

 

 

http://www.musiktheater.at/

https://www.bruckneruni.at/de/home/

https://www.posthof.at/programm/alles/

Miniserie Le Chalet

  Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: 

Heimlicher Alpenfilm #12

Eine Vendetta in den französischen Bergen. Im fiktiven Dorf Valmoline, das in der Serie zwischen Chambéry und Grenoble angesiedelt wird, urlauben fünf junge Paare in einem frisch renovierten Urlaubs-Chalet. Einige von ihnen kennen es noch als alte Waldhütte – von früher, als sie Kinder waren. Eine alte Geschichte, ein düsteres Geheimnis, wird sie, während ihrer kleinen Atempause von der Hetze des Lebens, einholen.

Es könnte alles so schön sein. Ein Sommer in den Bergen. Das neue alte Haus. Hübsche Leute. Junges Glück. Stattdessen zieht die Vergangenheit ihre schaurige Bilanz. Viele Pläne werden in dem so gut wie ausgestorbenen Dorf zunichte gemacht werden. Jeder der Beteiligten hat irgendeine Verstrickung. Eifersucht, Neid, Gier, Wollust und noch ein paar andere Todsünden sitzen immer mit am Tisch. Dem Geschehen in den sechs, jeweils 50 Minuten langen Episoden der Staffel drückt die DNA eines Psychothrillers den Stempel auf. Und die Savoyer Alpen zimmern den Rahmen, sie dekorieren das Grauen.

Die Dreharbeiten fanden im Sommer 2016 unter anderem in Chamonix statt. Premiere feierte die französische Fernsehserie, eine Eigenproduktion von France 2, im März 2018. Der Streamingdienst Netflix startete dann drei Wochen später international. Die Miniserie unter der Regie von Camille Bordes-Resnais spielt in zwei Zeitlinien, 1997 und 2017. Es gibt ein bisschen zu viele Rückblenden, und nicht alle Charaktere sind individuell genug gezeichnet. Manchmal verliert der Zuseher deshalb etwas die Orientierung, wo und wann er gerade ist. Dass man lange Zeit nicht viel weiß, aber trotzdem gespannt dabei bleibt – das spricht aber für die schöne Anlage und Ausarbeitung des Horror-Plots in sechs Etappen. Und das Unheimlichste ist, dass eigentlich nur Freunde mit dabei sind. Oder doch nicht?

Text: Alexander Hosch

Le Chalet (2017), France 2, französische Fernsehserie, 6 Folgen, 1 Staffel; Erstausstrahlung ab 18. März 2018; aktuell zu sehen auf Netflix

https://www.netflix.com/title/80232914

Zärtlichkeit

                                         Heimlicher Alpenfilm #11

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit:

In “La Tendresse” von 2013 (dt. Titel: Zärtlichkeit) trifft ein geschiedenes Paar nach Jahren wieder aufeinander. Aus Anlass einer stundenlangen Autofahrt von Brüssel nach Flaine in die französischen Alpen, wo der gemeinsame Sohn Jack – ein Skilehrer – einen Unfall hatte. Das Drama ist aber gar keines, jedenfalls kein großes. Es breitet sich eher aus wie ein langer, ruhiger Fluß, in dem das Leben ein paar neue Biegungen nimmt, bei denen noch einmal alle dabei sind, die auch am Anfang, quasi an der Quelle, wichtig waren. Niemand stirbt, niemand findet sich wieder. Es gibt also kein Happy end für Lise (Maryline Canto) und Frans (Olivier Gourmet) nach 15 Jahren Trennung. Höchstens für den Sohn Jack und seine Skifahrerfreundin. Doch Frans und Lisa erinnern sich nach und nach daran, warum sie einander einmal geliebt haben. Der Film betont Gemeinsamkeiten und kostbare Erinnerungen, nicht Probleme, Konflikte und Katastrophen, das ist das Seltene und Besondere.

Zu diesem feinen, leisen Bildschirmgemälde einer gescheiterten Familie aus Belgien entblättert sich im Hintergrund allmählich der grandiose Charme der in die Jahre gekommenen Skifahrerstadt Flaine. Die Architekturkulissen der radikalen Beton-City aus den sechziger und siebziger Jahren, die mit ihren mehr als 50 Blocks einst vom Bauhausgenie Marcel Breuer auf über 1600 Meter aus dem Nichts ins Hochgebirge gegossen wurde. Lässig perlen das kühle Mobiliar und die harten Fassadenkanten einer damals wie heute futuristischen Skistation vorbei, eine protzfreie Zone, in deren hippiesken Ski-Hotels und Residenzen sich ganz normale Skigruppen so entspannt treffen wie auch in der Wirklichkeit. Vom orangefarbenen Mondfahrerlift aus blickt man nachts im Film ins dunkle Steinparadies. Tagsüber aber sieht man von den scharf eingeschnittenen Fenstern und Balkonen der Breuer´schen Ferien-Architektur, in der die Protagonisten wohnen, direkt auf die verführerischen Pisten und Schneisen. Fast so als wäre man in einem Stadthotel. Irreal. Auch Jean Dubuffets Meisterskulptur Le Bouqueteau taucht prominent in Marion Hänsels Film auf, eine zebragestreifte Riesenskulptur mitten im Schneeparadies. Sie stellt ein Wäldchen. dar. Mit zwei weiteren Plastiken, von Victor Vasarély und Pablo Picasso, schmückt sie im Film und auch ganz real die wahrscheinlich wertvollste Skizirkusarena der Welt. Das Skitreiben schlägt ästhetisch das Thema an, aber Architektur und Schnee bleiben vor allem die faszinierende Szenerie für das Porträt einer Familienseelenlandschaft. Der Film endet ohne Sensation und so leise, wie er begonnen hat. Aber man ist sehr viel heiterer danach.

Text: Alexander Hosch                                                              

Fotos: Sabine Berthold

(Nur im Architekturmagazin: Unser 10-Seiten-Beitrag über Marcel Breuer & Flaine, “BAUHAUS ON THE ROCKS”, in: AW Architektur & Wohnen Nr. 1/2019)

  DVD “Zärtlichkeit”, ca. 15 Euro

Sportgastein

 

Immer wenn das Frühjahr kommt,  lockt mich Sportgastein. Dann ist es warm, die Sonne scheint, der Schnee passt da oben, auf fast 3000 m, auch. Auf dem Kreuzkogel gibt es neben dem Blick aufs Tauerngebirge dann noch eine wunderbare Erinnerung an die Zukunft von Gestern: Die Gipfelkugel aus Metall des Salzburger Architekten Gerhard Garstenauer aus dem Jahr 1972. Sie ist eines der letzten  Überbleibsel einer visionären Zeit im Gasteinertal.

Ostern würde ich am liebsten gleich nochmal vorbei schauen!

Text und Fotos: Sabine Berthold

Mehr Infos über die Kugel hier: Alexander Hosch, Winzig Alpin, Innovative Architektur im Mini-Format, 2018, DVA Randomhouse

https://www.randomhouse.de/Buch/Winzig-alpin/Alexander-Hosch/DVA-Bildband/e533604.rhd

 

Von der Amour fou zum Musée imaginaire

Kostbare Objekte, Glasmalerei, Zeichnungen, Skulpturen, Hauptwerke von Giovanni Segantini, Rudolf Koller, Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler und Alberto Giacometti. Angesichts der Schätze, die derzeit im Landesmuseum Zürich und demnächst auch im Museo d’arte della Svizzera italiana in Lugano versammelt sind, können einem die Augen übergehen. Es ist schon ein besonderes Fest, da diese Meisterwerke normalerweise auf 70 eidgenössische Museen verstreut sind. Sie stammen aus der Sammlung der seit 1891 aktiven Gottfried-Keller-Stiftung, eine märchenhafte Kollektion Schweizer Kunst ohne eigene Räume, die ihre Bestände, darunter Segantinis „Alpentryptichon“, Böcklins „Toteninsel“ oder Kollers „Gotthardpost“, als Dauerleihgaben auf verschiedene Häuser verteilt hat. Unmöglich, die mehr als 6400 Archive und Konvolute alle zu Gesicht zu bekommen. Ein plakatives Denkmal wollte sich die Stiftungsgründerin Lydia Welti-Escher vor 130 Jahren offenbar nicht setzen. Doch wer war diese großherzige Frau? Und warum so selbstlos?

Nur etwas mehr Kampfgeist und aus ihr wäre eine Peggy Guggenheim der Belle Époque geworden: Eine Mäzenin, die auch schwierige Kunst unterstützt, die sich die Freiheit nimmt, einen unmöglichen Kerl zu lieben und am Ende sagt – ich bereue nichts. Doch die wohlhabende Zürcher Patriziertochter lebte in einer Gesellschaft, die Frauen keine Flügel verleiht. Ihre Amour fou zu dem Künstler Karl Stauffer-Bern gipfelte im größten Schweizer Society-Skandal des 19. Jahrhunderts.

Karl Stauffer, „Bildnis von Lydia Welti-Escher“, 1886, Kunsthaus Zürich. Cover des Ausstellungskatalogs

Als sie ohne Geld und ohne Gepäck mit Stauffer-Bern nach Rom durchbrannte, intervenierte die mächtige Familie ihres Ehemanns Friedrich Emil Welti: Die Eskapade endete für sie im Irrenhaus und für ihn im Kerker. Beide kamen nach Monaten frei, zerbrachen aber an der Kriminalisierung ihrer Liebesgeschichte – und nahmen sich das Leben.

Bevor Lydia Welti-Escher am 12. Dezember 1891 starb, regelte sie noch eine Herzensangelegenheit: Ihr kolossales Vermögen aus dem Erbe des Eisenbahnkönigs Alfred Escher schenkte sie der Schweiz – zur Gründung einer Kunststiftung, die den Ankauf bedeutender Werke ermöglichen und auch Frauen weiterbilden sollte. Wieder schalteten sich die Weltis ein und redeten ihr den emanzipatorischen Passus in der Gründungsurkunde aus. Nicht einmal ihren Namen durfte sie der Stiftung vermachen. Warum ließ sie sich erneut demütigen? Es bleibt ein Rätsel.

Barthélemy Menn, „Waadtländer Mädchen mit Schlüsselblumen“, 1860. Kunsthaus Zürich

Heute ist die Gottfried-Keller-Stiftung, benannt nach dem Dichter und Freund der Familie Escher, das größte Musée imaginaire der Schweiz. Seit Ende 2018 hat es zudem einen digitalen Zwilling, denn das Bundesamt für Kultur präsentiert immer mehr Werke aus der Sammlung auch online. In Zürich und Lugano bietet sich endlich die Gelegenheit, die Highlights vereint und leibhaftig zu erleben.

Alexandra González

 

 

„Glanzlichter der Gottfried-Keller-Stiftung“, bis 22.04.2019, Landesmuseum Zürich

https://www.nationalmuseum.ch/d/microsites/2019/Zuerich/Glanzlichter.php

„Hodler – Segantini – Giacometti. Capolavori della Fondazione Gottfried Keller“, 24.03.-28.07.2019, Masi Lugano

http://www.masilugano.ch/it/794/hodler-segantini-giacometti

Zu den Ausstellungen ist bei Scheidegger & Spiess der schöne Katalog „Meisterwerke der Gottfried-Keller-Stiftung“ erschienen. Er kostet 38 Euro.

https://www.scheidegger-spiess.ch

Sammlung online:

https://www.gottfried-keller-stiftung.ch/gks/de/home.html

Die Rosskopfgondeln über der Brennerautobahn

#12      Und schon wieder dran vorbei gefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es Sehenswürdigkeiten, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir nehmen uns die Zeit und besuchen sie.

Objekt  Kabinenseilbahn auf den Rosskopf (Monte Cavallo) / Adresse  Alte Brennerpassstraße 12, I-39049 Sterzing (Vipiteno), Südtirol / Koordinaten  N 46° 54′ 54″, O 11° 22′ 59″ /  Bauzeit  1968-2019 /  Bau-Grund  Wer will schon bis  nach Madonna di Campiglio oder Cortina hinter zum Skifahren? / Aktuelle Nutzung Besuchertransport zur Bergstation, zur längsten Rodelbahn Italiens und ins Skigebiet Monte Cavallo (Tageskarte ca. 37-47 Euro); www.rosskopf.com / Betriebszeiten: Anfang Dezember bis Mitte April; Ende Mai bis Anfang Oktober / Schönster Augenblick  Sobald die Skisaison anfängt und die Gondeln die Autobahn queren, herrscht bei Skifahrern am Steuer sofort Serotonin-Alarm.

 

Warum man immer dran vorbeifährt:

Auf dem Heimweg vom Mittelmeerurlaub fürchten Autofahrer nichts mehr als den berüchtigten Brenner-Stau. Kaum einer hat dann das Herz oder die Muße, noch eine letzte Pause einzulegen – obwohl die Rosskopf-Gondeln, die hier malerisch die Fahrbahn kreuzen, im Winter wie im Sommer größtes Vergnügen versprechen…

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss:

Weil man so schnell dort ist! Die definitive Besonderheit im bequemen Kleinstskigebiet Sterzing ist die Landschaft: Man blickt von den Pisten des Monte Cavallo hinab jederzeit Richtung Dolomiten und übers Südliche Wipptal. Auf der nagelneuen 5-Kilometer-Talabfahrt wedeln die Skigäste unter den Sause-Brummis und Bussen durch – um dann, wenn sie wollen, gleich direkt in der Sterzinger Altstadt zum Shoppen abzuschwingen. Das nächste grandiose Alleinstellungsmerkmal der Sterzinger Rosskopfbahn ist, dass sie wahrscheinlich die einzige Alpengondelbahn darstellt, die im Drei-Meter-Abstand eine Autobahn überquert. Die weltweit tätige Seilbahnfirma Leitner hat sie einst gebaut, ein lokaler hidden champion aus dem 1000 Meter hoch gelegenen Städtchen. Das Sterzinger Unternehmen könnte an dieser Stelle auch gut kostenlos eine immerwährende Liftmaschinen-Markenwerbeschau veranstalten – für die vielen Millionen Europäer, die hier jährlich vorbeifahren. Tut es aber nicht. Stattdessen tauschte die Firma jetzt rechtzeitig zur Skisaison 2018/19 die Liftanlagen für die zweite Sektion in Richtung des 2.176 Meter hohen Monte Cavallo aus. Dort fährt nun eine sogenannte Telemixbahn: Kleine Gondeln sind abwechselnd mit 6er-Sesseln eingehängt; die Eltern und die Kinderskischule haben sich das so gewünscht. Die neue Bahn hat einen umweltfreundlichen DirectDrive-Elektromotor – das half bei der Entscheidung.

Wie man hinkommt:  

Bei der Ausfahrt Sterzing die A 22 verlassen und zum Ortseingang, wo wenige Meter unterhalb der Autobahn an der Alten Brennerstraße die Talstation liegt. Parken, Ski anschnallen, los geht’s.

Text und Fotos:  Alexander Hosch

(copyright für Idee, Text und Fotos: Alexander Hosch & Sabine Berthold)

Grafiken:  entdeckt im 3-Sterne-Hotel Rosskopf, www.hotel-rosskopf.it

Der Halbkugelpalast von Bad Gastein

Selbst die aktuellen Schneemassen können es nicht verbergen: Dieser Halbkugelpalast wartet nur noch auf Dornröschens Erweckungskuss. Unter dem ehemaligen Grand Hotel de l´Europe, das jetzt Ferienwohnungen und einen Gourmetfeiertempel namens Ginger & Gin beherbergt, wölbt sich im hochgelegenen Zentrum von Bad Gastein eine vierteilige Metallruine des 2016 verstorbenen Salzburger Architekten Gerhard Garstenauer über der Kulisse zersprungener Fensterscheiben und eines derangierten Interieurs. Hier könnte einst in der 1970er Jahren der ultimative Krieg der Sterne unter Discokugeln stattgefunden haben – doch irgendwann verlor die silbern-gläserne Lustarchitektur ihre Star Wars gegen den traditionellen Geschmack. Ewig schade drum, sie verkam. Aber was für eine Clublocation, noch immer! Sie könnte neu erstehen. Zur Zigarette draußen vor der Bar hätten die Nacht-Hipsters von heute dann den freisten aller Blicke übers ganze weite Gasteinertal.

Bad Gastein, das Kurbad des letzten österreichischen Kaisers, hat eine harte Zeit hinter sich. Riesige alte Hotelriegel aus der Epoche der vorletzten Jahrhundertwende kämpfen seit Jahrzehnten gegen den Fluch ihrer gigantischen Größe, gegen eine zu geringe Auslastung und gegen ihre angejahrten Spalandschaften. Selbst die paradiesische Steillage des Ortes mit der Felsentherme konnte diesen Schiefstand am Ende kaum noch richten. Doch nun kommen die Gäste wieder, die Umkehr ist geschafft. Junge Bar-Lokale wie „Kraftwerk“und hippe Hotels wie „Haus Hirt“ und „Miramonte“ glänzen mit smarten Konzepten in einer neuen Skiwelt. Denn Skihütten der jüngsten Art wie die „Rossalm“ und die „Weitmoserin“ umgarnen neuerdings auch die biodynamisch gewendete Kundschaft. Und in dem nur 9 km entfernten kleineren Kurort Bad Hofgastein gibt es seit ein paar Wochen einen todschicken Skibusbahnhof mit schrägen Pfeilern sowie eine orange leuchtende neue Gipfelseilbahn zur Schlossalm. Am 20. Januar wird sie offiziell eingeweiht. Die leibhaftigen Fantastischen Vier werden dann im Skischaukelzirkus hiphoppen und die nagelneue Direktroute auf die Hohe Scharte zuwummern: Von da oben lockt ein 12-Kilometer-Pisten-Ritt – die längste Skiabfahrt des Salzburger Landes.

Jetzt fehlt wirklich nur noch die Wiederkunft des Halbkugelpalasts.

Text und Fotos: Alexander Hosch

 

 

 

 

Ski  amadé: Tageskarte 54 €;  gute Kinder- u. Jugendtarife an Wochenenden

 

Die rot-weiß-rote Dramaqueen an der Inntalautobahn

#11     

Und schon wieder dran vorbei gefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es Bauwerke, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht.

Objekt   Klosterkirche zum Heiligen Karl Borromäus / Ort   Volderwaldstraße 3, A-6060 Volders, Tirol /  Koordinaten  N 47° 16.970’  E 011° 33.215’ / Bauzeit   1620–54 / Bau-Grund   Die Pest kann uns mal! / Stil   früher Autobahn-Manierismus / Aktuelle Nutzung  Kirche des Servitenordens / Öffnungszeiten  tagsüber; Messe Fr 7 Uhr, So + Feiertage 10.30 und 18.30 Uhr / Schönster Augenblick   zehn Minuten vor Sonnenuntergang

Warum man immer dran vorbeifährt:   Hinter Hall wird die A12 durch einen Lärmschutzwall fast zur Röhre. Plötzlich poppt ein Kranz bauchiger Kapellen neben der Fahrbahn auf. Zu spät…

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss!   Die rot-weiß-rote Karlskirche wurde mitten im Dreißigjährigen Krieg vom Arzt Hippolytus Guarinoni zu Ehren des 1610 gestorbenen Mailänder Pestheiligen Karl Borromäus gebaut. Kaiser Rudolf unterstützte ihn. Sie ist ein rares Meisterwerk des Manierismus nördlich der Alpen. Dieser Übergangsstil von der Renaissance zum Barock kultivierte Übertreibungen – hier sind es die drei Kapellen, die einander wegzudrücken scheinen. Guarinonis Grundriss ist stark vom etwa zeitgleich erbauten Petersdom in Rom inspiriert. Der Papst sollte Augen machen! Der größte Schatz hier, neben dem Kuppelfresko, ist die Pietà (1707) von Andreas Damasch, links vom Eingang („Brugg’n-Mutter“). Die Serviten sind Mariendiener. Darstellungen der Schmerzvollen Maria, deren Verehrung auf die große Pest 1347–52 zurückgeht, sind typisch für den Orden.

Wie man hinkommt:  Die A12 Richtung Innsbruck in Wattens verlassen, auf der Bundesstraße bis Volders. In Gegenrichtung zwischen Hall und Wattens am Autobahnparkplatz hinterm Lärmschutzwall raus. Ganz vorn durchs Gebüsch steigen. Daneben liegt die Kirche.

(copyright für Idee, Text und Fotos: Alexander Hosch & Sabine Berthold)