Die purpurnen Flüsse

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Die heimlichen Alpenfilme #7

Eine Berg-Universität. Der Rektor herrscht übers Tal wie ein Bürgermeister. In dem Kritik- und Kassenerfolg von 2000 über Eugenik, Inzucht und Forscherwahn brillieren Jean Reno und Vincent Cassel als ungleiche Kommissare, die sich, Rätsel für Rätsel, eine störrische Provinzwelt erschließen. Eine Verschwörerclique aus Bibliothekaren und Krankenpflegern hat dort ein grausames Elitezuchtsystem im Stil der Nazis angelegt, um aus kernigen Älplern und Professoren den vollkommenen Menschen zu kreuzen. Wie alle wirklich guten Krimis bleibt auch Mathieu Kassovitz´ Filmwerk übers Ende hinaus mysteriös. Beim Final Cut wurden sogar noch einige der Erklärszenen herausgeschnitten.

Aber wer hat diesen Horror-Thriller je als Bergfilm gesehen? Er ist es zweifellos. Weil es bei den Dreharbeiten zu schneien begann, musste das Buch teilweise täglich umgeschrieben werden. Grenoble, das Olympiastadion von Albertville, Chamonix unterm Mont Blanc, Argentière und ein halbes Dutzend anderer Alpendörfer waren Schauplätze, um den Phantasieort Guernon zu repräsentieren. Als alpine Gangster-Uni dient das geographische Forschungsinstitut von Modane-Avrieux, das wie ein Freimaurerschloss über der Landschaft hängt. Gletscherforscher pirschen mit den Ermittlern durch die weiße Pracht, und 90 Minuten lang vollziehen sich Andeutungen, Leichenfunde, Fluchten und Verfolgungsjagden zwischen Gondeln, Winterstürmen und Abstiegen in Höhlen aus ewigem Eis. Bis zum Showdown mit Eispickel, Lawine und Pistenraupe.                      Alexander Hosch

http://tobis.de/film/die-purpurnen-fluesse/

DVD von Tobis/Universal Film GmbH (bei ebay zirka 6,99 €)

In Dantes Höhle

Wikimedia Commons
Agnolo Bronzino, „Dante schaut auf den Läuterungsberg“, 1530

Vögel zwitschern, in der Luft liegt der hypnotische Honigduft des slowenischen SočaHornkrauts, die milde Frühlingssonne dringt noch mühelos durch das halbentfaltete Blätterdach der Hopfenbuchen. Ich kann mir auf meinem Rundgang durch die Tolminer Klammen beim besten Willen nicht vorstellen, weshalb Dante Alighieri die sprachmächtigste Jenseitswanderung der Literaturgeschichte am Karfreitag 1300, also vor ganz genau 717 Jahren, ausgerechnet in diesem freundlichen Feenwald beginnen ließ. Bis ich mich selbst auf wackeligen Beinen und nur im fahlen Schein der Handytaschenlampe einige Meter in den engen, finsteren Eingang zur Höhle Zadlaška Jama hineintaste.

Hier also soll Dante die Inspiration zur Beschreibung des Inferno in seiner „Göttlichen Komödie“ gefunden haben – jenem aberwitzig steil terrassierten Höllentrichter, der zum Erdmittelpunkt hinabstürzt. Er konnte kaum gewusst haben, dass sich das 1140 Meter lange Höhlensystem im Triglav-Nationalpark 41 Meter tief in den Berg bohrt, denn erst 1922 wurden die Kavernen erforscht. Doch dem Verseschmied, der mit seinem Meisterwerk den gesamten metaphysischen Kosmos des Christentums durchmessen hat, reichte ein kurzer Blick in den karstigen, vom Wasser des Isonzo-Gletschers zerklüfteten Fels, um die Pforten seiner Fantasie weit aufzustoßen.

Wikimedia Commons
Gustav Doré, „Dante verloren im Wald (Canto I der Göttlichen Komödie, Inferno)“

Was aber trieb den von den Papisten seiner Heimatstadt Florenz zum Teufel geschickten Dichter in diese einsame Gegend? Ganz einfach, er hatte bei seinem Freund Pagano della Torre, dem Patriarchen von Aquileia Zuflucht gefunden. Ihn besuchte der verbannte Poet auf dessen Festung Kozlov Rob, die heute  nahe des slowenischen Alpenstädtchens Tolmin als Burgruine Touristen anlockt.

Zurück im Tageslicht nehme ich mir vor, Kurt Flaschs preisgekrönte Neuübersetzung der „Göttlichen Komödie“ zu lesen. Sie erschien vor zwei Jahren als Taschenbuch. Vielleicht hat uns Dante nicht nur großes Lesevergnügen zu bieten, sondern in seiner gesinnungsethischen Empörung über Habgier, Maßlosigkeit und die Skrupellosigkeit von Politikern auch einen Schlüssel zur Gegenwart.

Alexandra González

Die Dantehöhle ist über den zahlungspflichtigen Rundweg durch die Tolminer Klammen erreichbar. Sie sollte nur mit einem Führer und in geeigneter Höhlenausrüstung besucht werden. In der Schlucht unterhalb des Eingangs, am Zusammenfluss von Tolminka und Zadlaščica, befindet sich auf  einer Meereshöhe von 180 Metern der niedrigste Punkt der Triglav-Nationalparks. Weitere Info: www.dolina-soce.com/de/tal_der_entdeckungen/naturliche_sehenswurdigkeiten/2012042011541208/

Zwei Grenzland-Ufos am Inn

Und schon wieder dran vorbeigefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es überraschende neue Architekturen. Und schöne ältere Bauten, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht.  Straßenrandperle #7

Objekte  Altes Passionsspielhaus und Neues Festspielhaus / Ort  Mühlgraben 56a, A-6343 Erl /  Koordinaten N 47° 40.390’ E 012° 10.260’/ Bauzeit 1956-59 und 2010-12 / Bau-Grund 1956 Wir zeigen es den Oberammergaunern!  / Bau-Grund 2010  Wir zeigen den Münchnern, wie man ein Konzerthaus baut! / Aktuelle Nutzung Tiroler Festspiele im Sommer 2017 und im Winter 2017/18; nächste Passion 2019; Einzeltermine übers Jahr / Öffnungszeiten und Tickets www.tiroler-festspiele.at ; www.passionsspiele.at / Schönster Augenblick  Zur blauen Stunde 

Warum man immer dran vorbeifährt:  Reine Nervosität. Man ist schon fast in Österreich, hat aber immer noch kein Pickerl für die kostenpflichtige Autobahn gekauft. Noch fünf Kilometer, dann ist es strafbar. (Außerdem war früher die Sicht ganz frei – heute baut sich nach einem superkurzen Blick auf die Architekturjuwelen gleich der Lärmschutzzaun auf.)

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss!   Um am Karfreitag (14.April) die Matthäuspassion oder im Juli ein Konzert der Tiroler Festspiele zu genießen. Das Programm zwischen Kammermusikabend und großer Oper reicht von Beethoven bis Mozart und Rossini. Und vor allem gibt es VIEL Wagner. Den Ring und mehr. Aber eigentlich muss man schon allein wegen der Architektur hin. Der größte Schatz des weißen alten Passionsspielhauses ist die gebogene Lochfassade aus Sichtbeton. Erl gehört neben Oberammergau zu den ältesten Passionsspielorten der Welt. Die Tradition ist seit 1613 nachweisbar. Bei den Spielen wirkt alle sechs Jahre das ganze Dorf mit. Und für das 1933 abgebrannte Haus wurde in den 1950ern ein couragiertes neues Theater im Zeitstil erbaut. Unwillkürlich ertappt man sich dabei, wie man nachguckt, ob nicht doch irgendwo Le Corbusier als Architekt vermerkt steht… Aber nein, der hieß Robert Schuller und war in Innsbruck Schüler von Clemens Holzmeister. So wie der Bau von 1956 eine kleine Sensation für das alpine Mitteleuropa der Wirtschaftswunderzeit darstellte, wurde dies auch das neue Festspielhaus, ab 2010 von den Wiener Architekten Delugan Meissl gleich daneben errichtet. Die 1997 gegründeten Tiroler Festspiele hatten ein gut geheiztes Domizil für ihre zweite Jahreszeit gebraucht – die Winterfestspiele. Durch den 36 Millionen Euro teuren schwarzen Diamanten, der das Festspiel-Duo nahe Kufstein nun optisch zum Yin und Yang der Musikwelt macht, emanzipierte sich Erl weiter von den Musikmetropolen München, Salzburg und Wien. Nicht nur architektonisch, sondern auch was die Superlative angeht: Das neue Ufo hat den größten Orchestergraben der Welt. So werden die nächsten Jahre Musik- und Architekturpilger aus aller Welt und vor allem aus München hierher in die alpine Provinz kommen. Um zu bewundern, wie man – ganz ohne großen Terz – so ein Konzerthaus baut.

Wie man hinkommt:  Von der A 8 München – Salzburg beim Inntaldreieck auf die A 93 Richtung Kufstein abbiegen. Ausfahrten Nußdorf/Brannenburg oder Oberaudorf/Niederndorf. Mit dem Auto liegt Erl von München, Salzburg und Innsbruck jeweils grob nur etwa 45 Minuten entfernt.

(copyright für Idee, Text und Fotos: Alexander Hosch & Sabine Berthold)

 

Dominik Graf: Die Sieger (1994)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Die heimlichen Alpenfilme #6

Der 12-Millionen-Mark-Film war Kassengift und selbst sein Regisseur Dominik Graf hielt ihn „im Kern für eine Ruine“. Trotzdem stecke alles drin, was ihn am Kino interessiere. Figuren wie Gespenster in einem Schattenreich aus Politik, Überwachung und organisiertem Verbrechen. Deutschland in den frühen Neunzigern, eine kalte Republik der Autobahnen, Raststätten, Glaspaläste und Besprechungsräume. Die Jungs vom SEK sind harte Knochen, aber mit Herz. Man lernt ihre Rituale kennen und erahnt den zerbrechlichen Zusammenhalt. Bildergebnis für Die Sieger Dominik Graf DVD EurovideoHerbert Knaup spielt mit einem noch ganz unverbrauchten Gesicht den Düsseldorfer Polizeihauptmeister Karl Simon, der einem Komplott auf die Spur kommt. Ein Mann wird entführt, und die Übergabe des Lösegeldes soll ausgerechnet in den Bergen stattfinden. Jetzt sattelt der nicht eben wortkarge Polizei-Thriller in der Tradition Sidney Lumets komplett auf das Action-Genre um. Showdown an der Karwendelbahn. Das nächtliche Mittenwald liegt wie ein goldglänzender Nibelungenschatz im Tal. Hoch oben an der Bergstation wartet das Grauen.   Alexandra González

Ur-Hölle und Berghotel

150 Jahre Wege und Schutzhütten. Was die Menschen in den Ostalpen gebaut haben, versammelt jetzt ein neues zweibändiges Werk, herausgegeben vom Deutschen Alpenverein, dem Österreichischen Alpenverein und dem Alpenverein Südtirol. Man erfährt, dass in diesen eineinhalb Jahrhunderten über 500 Hütten entstanden und 30.000 Kilometer Wege gebaut und gepflegt wurden. Die zwei Bücher sind das Ergebnis eines gemeinsamen Forschungsprojekts zur Kulturgeschichte und Architektur, welches die Alpenvereine gemeinsam vor drei Jahren begannen. Band 1 enthält Aufsätze und Fotoserien von Spezialisten zur Kulturhistorie, zu Bau und Erhalt, zum Denkmalcharakter und zu neuen ökologischen Architekturformen, zur Sozialgeschichte zwischen Wirt und Gästen, aber auch zu Politik und Hütten-Logistik.

Klar wird zum Beispiel, dass die Hütten über die Jahre immer größer werden mussten. Die Buch-Macher, darunter die Archivare der Alpenvereine, zeigen mit Fotos, Modellen, Beschreibungen und Zeichnungen auch, dass nicht jeder Satteldach-Traum, der auf dem Foto klein und herzig aussieht, tatsächlich ein Idyll ist, das sich auch in die Landschaft einfügt. Man kann nachlesen, wie schwierig es in den politischen Wirren nach dem 2. Weltkrieg gewesen sein muss, die geldfressenden Hütten entlegener Sektionen des Alpenvereins (“Dresdner Hütte”, “Magdeburger Hütte”) in der veränderten Welt bewohnbar zu halten. Oder man lernt, wie sich weit entfernt lebende Städter in den Bergen verwirklichten und mit Tatkraft am Wege- und Hüttenbau beteiligten,. Der nämlich blieb stets Aufgabe der einzelnen Sektion. Immer gab es dabei Diskussionen unter den Mitgliedern und Funktionären darüber, was angemessen ist: mehr Komfort oder mehr Zurückhaltung gegenüber der Natur. Band 2 liefert dann eine wertvolle Übersicht sämtlicher 569 ostalpinen Schutzhütten, die im Bereich der drei genannten Alpenvereine in den letzten eineinhalb Jahrhunderten gebaut worden sind. Schönes, nützliches Werk!

In der zugehörigen neuen Ausstellung im Alpinen Museum auf der Münchner Praterinsel stehen gegenüber den Stationen in Innsbruck und Bozen deutsche Hütten im Vordergrund, alte und ganz junge. So erhielt, um ein Beispiel zu nennen, die Fiderepasshütte der Sektion Oberstdorf am Eingang des Mindelheimer Klettersteigs 2013 einen zurückhaltenden Relaunch, indem Architekt Rainer Schmid die 40 Schlafplätze elegant unter die Terrasse verlegte. Im Garten des Alpinen Museums wurde andererseits vor Kurzem die jüngst unter der Zugspitze abgebaute Höllentalangerhütte von 1894 (“Ur-Hölle”) originalgetreu wieder aufgebaut – eine Dokumentation von Geschichte. Nicht mehr vorhandene Konstruktionselemente sind mit Eisen materiell abgesetzt, um strukturelle Eingriffe klarzumachen. Die Einrichtung – Stühle, Bänke, ein Tisch, Bettenlager für zehn Personen – wurde dagegen in der ursprünglichen Form neu geschreinert, was sich im helleren Holzton ausdrückt. Nebenan im Museum sind Modelle der Hütten, Fotografien, Gemälde, Möbel und Gebrauchsgerät zu sehen, sie schlagen den Bogen von der kargen frühen Unterkunft um 1870 zu den heutigen “Berghotels”.              Alexander Hosch

Hoch hinaus! Wege und Hütten in den Alpen, 2 Bände, 674 Seiten. Herausgegeben von DAV, ÖAV und AVS, Böhlau Verlag, 49,90 €, ISBN 978-3-412-50203-4. Sonderausgabe für Alpenvereinsmitglieder im DAV Shop und im Alpinen Museum: 34,90 €

Die gleichnamige Ausstellung im Alpinen Museum dauert bis 8. April 2018. https://www.alpenverein.de/Kultur/

Von Hollywood nach Leukerbad

Rassistische Kundgebung in Little Rock. Aus dem oscar-nominierten Dokumentarfilm „I Am Not Your Negro“. Photo courtesy of Magnolia Pictures.

„Moonlight“ hat also bei der Oscar-Verleihung das Rennen gemacht. Dieser Film porträtiert schwarzes, schwules Leben in seiner Vielschichtigkeit, seinem Stolz und seinem Schmerz. Ein Sujet, das es im glamourversessenen Hollywood ganz und gar nicht leicht hat. Das macht diesen Sieg noch süßer. Auch in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ waren drei Produktionen nominiert, die sich mit dem Thema Schwarzsein in den USA befassen. Am Ende mussten sich die besseren – „I Am Not Your Negro“ und „13th“ – gegenüber „O.J.: Made In America“ geschlagen geben. Ihre furiose Kraft beziehen diese Filme gerade jetzt aus einer erschreckenden Nähe zur amerikanischen Gegenwart. Daher sprengen sie mühelos die Fesseln ihrer Identity-Politics-Nische.

Plakat zum Film. Photo courtesy of Magnolia Pictures.

„I Am Not Your Negro“ erzählt die Geschichte Amerikas mit den Worten des großartigen Autors und Bürgerrechtlers James Baldwin (1924 – 1987) neu. Die Basis für diesen Film ist sein 1979 begonnener, letzter, doch unvollendet gebliebener Text „Remember This House“. Um sein Lebensthema – die scharfsinnige Kritik an der rassistischen Gesellschaft – zu formulieren, musste Baldwin seine Heimat jedoch zunächst einmal verlassen.

Mit nur 25 Jahren zieht er nach Paris. Im Winter 1951 schlupft er dann mit seinem Schweizer Liebhaber Lucien Happersberger in Leukerbad unter. Ein schwuler, dunkelhäutiger Bohèmien in einem Walliser Nest – kann das gut gehen? Erst amüsiert sich Baldwin über den Hauch von Erstaunen, Neugier oder auch Entrüstung, der ihm stets folgt, dann legt er los. Er vollendet in Leukerbad nicht nur seinen ersten amerikanischen Roman „Go Tell It On The Mountain“ über die Geheimnisse einer unterdrückten schwarzen Familie in der Großen Depression. Später packt er seine Erlebnisse auch in einen weltklugen Essay über Rassismus: „Ein Fremder im Dorf“ ist vor wenigen Jahren, neu ins Deutsche übersetzt, in der edition sacré erschienen.

Er sei einfach ein lebendes Wunder, stellt Baldwin fest, als die Kinder ihn mit Schneebällen bewerfen und die Älteren ihm belustigt ins Haar fassen. „Im Scherz schlug man mir vor, ich solle es wachsen lassen und mir einen Wintermantel daraus machen.“ Aber Vorsicht, Baldwin ist für billige Agitation nicht zu haben, sondern eine smarter Analytiker des ungleichen Blicks, mit dem sich Schwarze und Weiße gegenüberstehen. „Im Grunde existiert der Schwarze als Mensch für Europa nicht. In Amerika jedoch war er selbst als Sklave ein unübersehbarer Teil des allgemeinen gesellschaftlichen Gefüges, und kein Amerikaner konnte es umgehen, ihm gegenüber Stellung zu beziehen.“ Gedanken von verstörender Aktualität. Und die Academy of Motion Pictures Arts and Sciences (sie vergibt die Oscars) leistet sich in diesem Jahr mit ihrem vielfältigen Reigen aus Filmen von und über Afroamerikaner eine seltene Hommage an die Wirklichkeitsnähe.   Alexandra González

 

I Am Not Your Negro wird ab 30. März 2017 in den deutschen Kinos zu sehen sein.    

James Baldwin Fremder im Dorf — Ein schwarzer New Yorker in Leukerbad. Édition Sacré, 2012. Illustrationen: Blanc de Titane. 14.- SFR. / 11 €

 

Superweiß

Das Besondere an den Bildern von Walter Niedermayr liegt in der Entsättigung der Farben. Der Schnee, das Foto, das Bild ist nach diesem Eingriff oft so porentief weiß, dass man es selbst dann nicht mehr für wirklich hält, wenn man gerade aus einem tiefverschneiten Alpenort vom Skiurlaub gekommen ist. Real wird abstrakt. So ist es dem Südtiroler recht.

Das unglaublich helle Weiß des Schnees ist das Markenzeichen des Bozener Fotografen. Superweiß. Dazu die kleinen Skifahrer, die riesenhaften Berge, einzelne farbige Akzente – Schneestangen, Anoraks. Auf diese Weise hat Niedermayr in seinen Großformaten vor 15 Jahre Titlis in der Schweiz in Szene gesetzt und, zehn Jahre später, das amerikanische Skimekka Aspen in Colorado. Seine neueste Serie beschäftigt sich mit einem anderen Skimekka, Lech am Arlberg. Dafür wurde Niedermayr von der Vereinigung „allmeinde commongrounds“ 2015/16 eingeladen, in vier einwöchigen Aufenthalten „Raumaneignungen“ abzubilden.

Das Fazinierende ist auch hier, dass seine Fotografien zwar topografische Klarnamen wie LECH HEXENBODEN haben, aber nie wirklich wahr wirken. Das Bild ist stets mehr Kunst als Foto. Es ist komponiert, auch das Bergrelief will nicht Abbildung sein. Das Panorama der Gipfel hat mit den Skifahrern nichts zu tun. Und auch nicht mit dem Schnee, der großen Masse weißer Farbe, die auf vielen Bildern den meisten Platz einnimmt. Weder „stimmen“ die Proportionen, noch die Schatten, noch die Farben. Und wenn Niedermayr die Bilder zu Diptychen zusammenstellt, lässt er verschiedene Winkel und Blickweisen aufeinanderprallen. Das sorgt für zusätzliche Irritation. Es verstärkt die abstrakte Position des Fotografen, der von hoch droben auf die Objekte seines Schaffens blickt – wie ein Theaterdichter auf das Bühnengeschehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Er habe die Farben der Alpen nicht ausgehalten, erklärt der Bozener, der selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, im abgedruckten Interview, „es war einfach zu klischeehaft“. So begann es. Durch die Entsättigung nahm Niedermayr seinen Foto-Alpen das Saftige und brachte durch diese Verfremdung den Minimalismus ins Spiel. Die bevölkerten Berge, die dennoch immer sein Thema sind, finden durch das Weiß (in sommerlichen Bildern: das entsättigte Grau oder Grün) zur ursprünglichen Stille zurück. Die Kritik wird zu Poesie.

Norwegen, Neuseeland, Dolomiten – es sind immer touristische Landschaften, die Niedermayrs Interesse wecken. Meistens sind diese Fotos, wie gesagt, voller Schnee. Die Menschen durcheilen ameisenhaft die superweißen Prärien – als Skifahrer, als Touristen. Man sieht auch, ebenfalls klein, ihre Schöpfungen: Brücken, Skilifte, Schutzhütten, Werbebanner. Enorm sind dagegen die Gipfel. Und die Distanz. Sie gibt den Bergen ihre Größe zurück, und ihre Würde. Die Natur wirkt riesengroß, die Menschen winzig klein.

Nach allem, was Walter Niedermayr dazu sagt, verändert er seine Fotos nicht digital, sondern verkürzt nur den Zeitraum der Belichtung. Das lässt sie „zu hell“ erscheinen. Man möchte im ersten Moment gern die Sonnenbrille aufsetzen, so wie beim Skifahren, wenn eine gleißende Schneefläche blendet. Dann aber mag man gar nicht mehr wegschauen.

Alexander Hosch

www.hatjecantz.de

Walter Niedermayr: Raumaneignungen – Lech 2015/2016, Hatje Cantz, 2017, 39,80 Euro.

Dies ist das sechste Buch, das Niedermayr zusammen mit Hatje Cantz herausgibt. 49 Diptychen in individuellen Größen werden darin gezeigt, die meisten messen im Original zwischen 100 und 200 Zentimetern (plus einige kleinere/ größere). 1 Essay, 1 Interview. Das Motiv Lech Monzabonalpe 05 wird in der Edition Hatje Cantz für 1.500 € angeboten

 

Bauhaus meets Hüttenzauber

Lois Welzenbacher (1899-1955) war ein Tiroler Architekt. Sein Sudhaus für Adambräu sah auf Fotos schon zur Bauzeit 1926/27 berückend modern aus. Ein Prototyp für die sich gerade erst entwickelnde Architektur des Bauhauses? Man hätte diesen Industriebau damals leicht in Dessau oder Jena vermuten können.

Neunzig Jahre später, an einem sonnigen Innsbrucker Wintertag um die Mittagszeit. Die Brauerei gibt es nicht mehr. Aber das Adambräu gleich beim Hauptbahnhof sieht noch immer großartig aus. Es beherbergt jetzt das Archiv für Baukunst der Universität. Und zur Zeit dessen Ausstellung „Hoch hinaus!“. Darin geht es um die Wege in den Alpenraum seit 200 Jahren, und um kleine und große, alte und nagelneue Schutzhütten des Deutschen, Österreichischen und Südtiroler Alpenvereins. Die Schau bringt in den oberen drei Geschossen Fotos von Hütten und Menschen sowie Accessoires aus der Anfangs- und Jetztzeit der Alpenerschließung zusammen. Sie führt modellhaft die Energiebilanz so einer Schutzhütte vor Augen. Man kann per Knopfdruck genau den realen Strom- oder Wasserhaushalt beleuchten. Einmal Klospülen kostet 5 Euro. Alte S/W-Fotos verbreiten Nostalgie. Simulierte neue Bilder bereiten auf die Zukunft vor: Metallisch glitzernde Techno-Zacken – wie ab Sommer 2017 etwa die Seethalerhütte am Hohen Dachstein. Die ergeben aber genau dann Sinn, wenn sie schlau gebaut sind und den Extrembedingungen auf 3000 bis 4000 Metern besser Paroli bieten als die Holzbauten von früher.

Soziologie, Ökologie, Kultur, Architektur, Logistik, Gemütlichkeit – die Berghütten-Romantik ankert in vielen Gebieten. Alle kommen in der Schau vor, aber nicht auf akademische oder enzyklopädische Weise. Sondern kurz und kenntnisreich, sehr charmant. Grüne Holzpantoffeln mit Edelweiss drauf, ein Fenstertableau voller Stühle, Schaubilder mit Leuchtknöpfen. Und ganz oben darf man im allseitig durchfensterten Panoramastüberl die reale Kulisse der Stadt Innsbruck vor Nordkette und Wendelsteingebirge genießen. Oder ein paar Augenblicke unter einer Original-Hüttendecke zwischen rotweißen Polstern schlummern. Apart.   Alexander Hosch

Hoch hinaus“ im Adambräu, Archiv für Baukunst, Innsbruck, bis 3. Februar 2017, www.alpenverein.at/museum. Eintritt frei. Anschließend ist die Schau ab 9. März im Alpinen Museum München zu Gast, sowie später noch als dritte Station in Bozen.

Mehrere Alpenschutzhütten aus jüngster Zeit – etwa die Neue Monte-Rosa-Hütte – sind in meinem „Architekturführer Schweiz – die besten Bauten des 21. Jahrhunderts“ vorgestellt. Siehe https://www.callwey.de/buecher/architekturfuehrer-schweiz/

Nach Flaine

Die Reichen und Berühmten unter den Skifahrern verbringen ihre Winter anderswo. Stil-Jünger aber fahren nach Flaine. Schon immer. Wegen des Mont Blanc, der das Skigebiet hoch über dem Genfer See auf unschlagbare Weise persönlich bewacht. Wegen der Traumpisten und wegen der futuristischen orangen Schräglifte wie aus dem Weltall. Wegen der coolen Bauhaus-Architektur von Marcel Breuer, der für dieses Skitopia auf fast 1700 Metern Höhe eine Phalanx aus Sichtbetondiamanten in die Berge setzen ließ. Und wegen der drei sensationellen Freiskulpturen von Picasso, Vasarély und Dubuffet, die hier im Zentrum des Skitreibens stehen als wäre das normal.

    Die Wiederöffnung des Hotels Totem hat diesen Zauberort der späten Sixties vor Kurzem wachgeküsst und ins Jahr 2017 gebeamt. Denn jetzt gibt es wieder eine angemessen kunstaffine Unterkunft im Zentrum von Flaine, die der Radikalität der Ur-Idee gewachsen ist. Mit Breuers purer moderner Architektur von 1968 und seinem aus einer einzigen Linie entworfenen Clubsessel S35 in den Zimmern. Mit Kuhfell-Schränken, die Gesichter haben. Mit einer wunderbaren Breuer-Kaminskulptur, die den Genius loci der Hotel-Lobby neu entfacht. Mit einem heißen neuen Draußenpool und farbenfrohen Gläsern, Bechern, Tellern und Vintagemöbeln, die den demokratischen Lifestyle und den lässigen, bunten Hippie-Chic weitertragen. Das allererste Exemplar einer neuen Art Berghotel („Terminal Neige“) kann man in Flaine jetzt, wie ein Stadthotel, auch tageweise buchen. So möchte die Sibuet-Gruppe eine junge, spontane Klientel für die Ski-Berge begeistern. Müsste gelingen.                            Alexander Hosch

Skisaison in Flaine: bis 23. April 2017. Von München aus sind es acht Fahrstunden, die sich lohnen. Hotel Totem ab 164 Euro pro Nacht für das Doppelzimmer, www.terminal-neige.com.   Alle Foto-Copyrights:  Sabine Berthold, www.sabine-berthold-fotografie.com

Lesen Sie auch die Big Story dazu: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. Januar 2017, Ressort Reise. Oder online: http://www.faz.net/aktuell/reise/ski-utopia-flaine-moderne-mit-schuss-14609235.html

 

Egon Günther: Ursula (1978)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Die heimlichen Alpenfilme #5

„Wenn die Religionen sich wenden, so ist es, wie wenn die Berge sich auftun.“ Mit diesen zutiefst romantischen Worten beginnt Egon Günthers Adaption der Gottfried-Keller-Novelle „Ursula“. Ganz werkgetreu hat der Regisseur den Stoff an Originalschauplätzen verfilmt.

1523. Der brave Soldat Hansli kehrt ins Zürcher Oberland zu seiner Jugendliebe Ursula zurück, die jetzt den Täufern angehört. Wie eine Stichflamme sei ihm das Phänomen der Täufer erschienen, sagte der einstige DEFA-Avantgardist Günther in einem Interview. Wie eine kommunistische Urphantasie, die sich um Religionsfreiheit und sexuelle Libertinage rankt.

Hansli geht nach Zürich, erlebt den Bildersturm, zieht in die Schlacht, in der man Zwingli in Stücke reißt. Das Happy Ending dieser Liebesgeschichte in den Wirren der Reformationszeit: Ursula pflegt ihn gesund und wird seine Braut. Als Soldaten ihr den Mann wieder nehmen wollen, verfällt das Mädchen in wirksames Kampfgeschrei: „Ihr Arschficker, Ausrotter!“ Und brandmarkt damit das Unheil des Krieges.

1978 wurde diese rabiat expressionistische Ko-Produktion von DDR- und Schweizer TV ausgestrahlt, wanderte jedoch wegen unterstellter Systemkritik in den Giftschrank des DDR-Fernsehens. Die Schweizer dagegen konnten Egon Günther nicht verzeihen, dass er als Deutscher bei diesem urhelvetischen Stoff „die Sau rauslässt“. Dabei hatte schon Keller kein Blatt vor den Mund genommen. Alexandra González

http://www.ddr-tv.de/

http://www.thalia.de/shop/home/artikeldetails/ursula/EAN4052912371354/ID36257884.html

https://www.weltbild.de/artikel/film/ursula_18262049-1