Superweiß

Das Besondere an den Bildern von Walter Niedermayr liegt in der Entsättigung der Farben. Der Schnee, das Foto, das Bild ist nach diesem Eingriff oft so porentief weiß, dass man es selbst dann nicht mehr für wirklich hält, wenn man gerade aus einem tiefverschneiten Alpenort vom Skiurlaub gekommen ist. Real wird abstrakt. So ist es dem Südtiroler recht.

Das unglaublich helle Weiß des Schnees ist das Markenzeichen des Bozener Fotografen. Superweiß. Dazu die kleinen Skifahrer, die riesenhaften Berge, einzelne farbige Akzente – Schneestangen, Anoraks. Auf diese Weise hat Niedermayr in seinen Großformaten vor 15 Jahre Titlis in der Schweiz in Szene gesetzt und, zehn Jahre später, das amerikanische Skimekka Aspen in Colorado. Seine neueste Serie beschäftigt sich mit einem anderen Skimekka, Lech am Arlberg. Dafür wurde Niedermayr von der Vereinigung „allmeinde commongrounds“ 2015/16 eingeladen, in vier einwöchigen Aufenthalten „Raumaneignungen“ abzubilden.

Das Fazinierende ist auch hier, dass seine Fotografien zwar topografische Klarnamen wie LECH HEXENBODEN haben, aber nie wirklich wahr wirken. Das Bild ist stets mehr Kunst als Foto. Es ist komponiert, auch das Bergrelief will nicht Abbildung sein. Das Panorama der Gipfel hat mit den Skifahrern nichts zu tun. Und auch nicht mit dem Schnee, der großen Masse weißer Farbe, die auf vielen Bildern den meisten Platz einnimmt. Weder „stimmen“ die Proportionen, noch die Schatten, noch die Farben. Und wenn Niedermayr die Bilder zu Diptychen zusammenstellt, lässt er verschiedene Winkel und Blickweisen aufeinanderprallen. Das sorgt für zusätzliche Irritation. Es verstärkt die abstrakte Position des Fotografen, der von hoch droben auf die Objekte seines Schaffens blickt – wie ein Theaterdichter auf das Bühnengeschehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Er habe die Farben der Alpen nicht ausgehalten, erklärt der Bozener, der selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen ist, im abgedruckten Interview, „es war einfach zu klischeehaft“. So begann es. Durch die Entsättigung nahm Niedermayr seinen Foto-Alpen das Saftige und brachte durch diese Verfremdung den Minimalismus ins Spiel. Die bevölkerten Berge, die dennoch immer sein Thema sind, finden durch das Weiß (in sommerlichen Bildern: das entsättigte Grau oder Grün) zur ursprünglichen Stille zurück. Die Kritik wird zu Poesie.

Norwegen, Neuseeland, Dolomiten – es sind immer touristische Landschaften, die Niedermayrs Interesse wecken. Meistens sind diese Fotos, wie gesagt, voller Schnee. Die Menschen durcheilen ameisenhaft die superweißen Prärien – als Skifahrer, als Touristen. Man sieht auch, ebenfalls klein, ihre Schöpfungen: Brücken, Skilifte, Schutzhütten, Werbebanner. Enorm sind dagegen die Gipfel. Und die Distanz. Sie gibt den Bergen ihre Größe zurück, und ihre Würde. Die Natur wirkt riesengroß, die Menschen winzig klein.

Nach allem, was Walter Niedermayr dazu sagt, verändert er seine Fotos nicht digital, sondern verkürzt nur den Zeitraum der Belichtung. Das lässt sie „zu hell“ erscheinen. Man möchte im ersten Moment gern die Sonnenbrille aufsetzen, so wie beim Skifahren, wenn eine gleißende Schneefläche blendet. Dann aber mag man gar nicht mehr wegschauen.

Alexander Hosch

www.hatjecantz.de

Walter Niedermayr: Raumaneignungen – Lech 2015/2016, Hatje Cantz, 2017, 39,80 Euro.

Dies ist das sechste Buch, das Niedermayr zusammen mit Hatje Cantz herausgibt. 49 Diptychen in individuellen Größen werden darin gezeigt, die meisten messen im Original zwischen 100 und 200 Zentimetern (plus einige kleinere/ größere). 1 Essay, 1 Interview. Das Motiv Lech Monzabonalpe 05 wird in der Edition Hatje Cantz für 1.500 € angeboten

 

Bauhaus meets Hüttenzauber

Lois Welzenbacher (1899-1955) war ein Tiroler Architekt. Sein Sudhaus für Adambräu sah auf Fotos schon zur Bauzeit 1926/27 berückend modern aus. Ein Prototyp für die sich gerade erst entwickelnde Architektur des Bauhauses? Man hätte diesen Industriebau damals leicht in Dessau oder Jena vermuten können.

Neunzig Jahre später, an einem sonnigen Innsbrucker Wintertag um die Mittagszeit. Die Brauerei gibt es nicht mehr. Aber das Adambräu gleich beim Hauptbahnhof sieht noch immer großartig aus. Es beherbergt jetzt das Archiv für Baukunst der Universität. Und zur Zeit dessen Ausstellung „Hoch hinaus!“. Darin geht es um die Wege in den Alpenraum seit 200 Jahren, und um kleine und große, alte und nagelneue Schutzhütten des Deutschen, Österreichischen und Südtiroler Alpenvereins. Die Schau bringt in den oberen drei Geschossen Fotos von Hütten und Menschen sowie Accessoires aus der Anfangs- und Jetztzeit der Alpenerschließung zusammen. Sie führt modellhaft die Energiebilanz so einer Schutzhütte vor Augen. Man kann per Knopfdruck genau den realen Strom- oder Wasserhaushalt beleuchten. Einmal Klospülen kostet 5 Euro. Alte S/W-Fotos verbreiten Nostalgie. Simulierte neue Bilder bereiten auf die Zukunft vor: Metallisch glitzernde Techno-Zacken – wie ab Sommer 2017 etwa die Seethalerhütte am Hohen Dachstein. Die ergeben aber genau dann Sinn, wenn sie schlau gebaut sind und den Extrembedingungen auf 3000 bis 4000 Metern besser Paroli bieten als die Holzbauten von früher.

Soziologie, Ökologie, Kultur, Architektur, Logistik, Gemütlichkeit – die Berghütten-Romantik ankert in vielen Gebieten. Alle kommen in der Schau vor, aber nicht auf akademische oder enzyklopädische Weise. Sondern kurz und kenntnisreich, sehr charmant. Grüne Holzpantoffeln mit Edelweiss drauf, ein Fenstertableau voller Stühle, Schaubilder mit Leuchtknöpfen. Und ganz oben darf man im allseitig durchfensterten Panoramastüberl die reale Kulisse der Stadt Innsbruck vor Nordkette und Wendelsteingebirge genießen. Oder ein paar Augenblicke unter einer Original-Hüttendecke zwischen rotweißen Polstern schlummern. Apart.   Alexander Hosch

Hoch hinaus“ im Adambräu, Archiv für Baukunst, Innsbruck, bis 3. Februar 2017, www.alpenverein.at/museum. Eintritt frei. Anschließend ist die Schau ab 9. März im Alpinen Museum München zu Gast, sowie später noch als dritte Station in Bozen.

Mehrere Alpenschutzhütten aus jüngster Zeit – etwa die Neue Monte-Rosa-Hütte – sind in meinem „Architekturführer Schweiz – die besten Bauten des 21. Jahrhunderts“ vorgestellt. Siehe https://www.callwey.de/buecher/architekturfuehrer-schweiz/

Nach Flaine

Die Reichen und Berühmten unter den Skifahrern verbringen ihre Winter anderswo. Stil-Jünger aber fahren nach Flaine. Schon immer. Wegen des Mont Blanc, der das Skigebiet hoch über dem Genfer See auf unschlagbare Weise persönlich bewacht. Wegen der Traumpisten und wegen der futuristischen orangen Schräglifte wie aus dem Weltall. Wegen der coolen Bauhaus-Architektur von Marcel Breuer, der für dieses Skitopia auf fast 1700 Metern Höhe eine Phalanx aus Sichtbetondiamanten in die Berge setzen ließ. Und wegen der drei sensationellen Freiskulpturen von Picasso, Vasarély und Dubuffet, die hier im Zentrum des Skitreibens stehen als wäre das normal.

    Die Wiederöffnung des Hotels Totem hat diesen Zauberort der späten Sixties vor Kurzem wachgeküsst und ins Jahr 2017 gebeamt. Denn jetzt gibt es wieder eine angemessen kunstaffine Unterkunft im Zentrum von Flaine, die der Radikalität der Ur-Idee gewachsen ist. Mit Breuers purer moderner Architektur von 1968 und seinem aus einer einzigen Linie entworfenen Clubsessel S35 in den Zimmern. Mit Kuhfell-Schränken, die Gesichter haben. Mit einer wunderbaren Breuer-Kaminskulptur, die den Genius loci der Hotel-Lobby neu entfacht. Mit einem heißen neuen Draußenpool und farbenfrohen Gläsern, Bechern, Tellern und Vintagemöbeln, die den demokratischen Lifestyle und den lässigen, bunten Hippie-Chic weitertragen. Das allererste Exemplar einer neuen Art Berghotel („Terminal Neige“) kann man in Flaine jetzt, wie ein Stadthotel, auch tageweise buchen. So möchte die Sibuet-Gruppe eine junge, spontane Klientel für die Ski-Berge begeistern. Müsste gelingen.                            Alexander Hosch

Skisaison in Flaine: bis 23. April 2017. Von München aus sind es acht Fahrstunden, die sich lohnen. Hotel Totem ab 164 Euro pro Nacht für das Doppelzimmer, www.terminal-neige.com.   Alle Foto-Copyrights:  Sabine Berthold, www.sabine-berthold-fotografie.com

Lesen Sie auch die Big Story dazu: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8. Januar 2017, Ressort Reise. Oder online: http://www.faz.net/aktuell/reise/ski-utopia-flaine-moderne-mit-schuss-14609235.html

 

Drei Seile für ein Halleluja

p10105873 S – das ist jetzt die Zauberformel am Stubaigletscher. Sie steht für „drei Seile“ – ein Zugseil, zwei Tragseile. Mit ihnen hält die nagelneue 3-S-Eisgratbahn, wenn sie bis auf 2.900 Meter hochfährt, künftig Windspitzen bis 130 Kilometer vignette_alpenstaunenaus (und nicht mehr nur bis 60). Warum? Wegen der „Windsperrtage“. Das ist das Horrorwort für Skiliftbesitzer. Bislang musste die Stubaier Bergbahn an zehn bis fünfzehn Tagen zwischen Oktober und April geschlossen bleiben, weil es zu stürmisch war für die Auffahrt. Obwohl man oben prima hätte Skifahren können. Ein Jammer. Bei der offiziellen Einweihung am 3. Dezember hieß es jetzt, dass davon wohl nur ein bis zwei stille Tage übrig bleiben werden. Das substanzielle Lifting hat stolze p101057865 Millionen Euro gekostet und ist damit übrigens Österreichs größte Einzelinvestition in die Ski-Zukunft. Für dieses Geld bekam Stubai eine innovative Gletscherbahn-Konstruktion von der Sterzinger Leitner-Gruppe und eine nagelneue Architektur für die versetzte Talstation sowie passende Anbauten an Berg- und Mittelstation

p1010541Neben den lichtfurchfluteten Stationen aus transluzenten Doppelstegplatten sind die orangefarbenen neuen Panoramagondeln der zweite Hingucker. Die bekannte italienische Designschmiede Pininfarina hat die 48 Kabinen so exklusiv wie First Class Bereiche entworfen. Zu den je 24 Sitzen mit Rundumblick kommen acht Stehplätze. Weil die Bahn auch noch schnell ist, verdoppelt sich die Transportfrequenz zum Gletscher auf stündlich 3000 Fahrgäste, die während der 11 Minuten zum Eisgrat freies WLAN haben. Der schnittigste Baukörper stehtp1010547 übrigens im Tal: Seine durchscheinende, angerundete Kubatur erinnert an einen Hochgeschwindigkeits-Zug. Anthrazitfarbener Beton kleidet die Flachteile.

Zum Gestaltungskonzept des größten österreichischen Gletscherskigebiets gehört schon länger die bei mildem Winterwetter begehbare Aussichtsplattform „Top of Tyrol“ von den Innsbrucker LAAC p1010382Architekten, die auf 3.210 Metern den Blick über 109 Dreitausender frei gibt. Und der silberne Käfig der „Jochdohle“ – ein Metall-Glas-Rondell mit dem höchst gelegenen Restaurant Österreichs darin. Etwas unterhalb gibt es im „Schaufelspitz“ in der Bergstation Eisgrat zur Spitzen-Lage auch noch Spitzen-Verpflegung: Denn Küchenchef David Kostner hat seit 2015 bei Gault Millau nicht weniger als zwei Hauben auf.

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Die Europabrückenkapelle

Und schon wieder dran vorbeigefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es überraschende neue Architekturen. Und schöne ältere, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht.  Straßenrandperle #6

europabruecke__dsc1406Objekt Kirche mit filigranem Glockenturm an der Brennerautobahn zwischen Innsbruck und Matrei / Ort A-8141 Schönberg, vignette_strassenrandperlen4am Autobahnrastplatz  / Koordinaten N 47° 11.892´ E 011° 23.934´ / Bauzeit 1963 / Bau-Grund Auch am Steuer gibt’s viel Sünd’ / Aktuelle Nutzung Autobahnkapelle / Öffnungszeiten Glasfront mit Durch-Blick! Der kleine 200-Meter-Aufstieg lohnt sich also zu jeder Zeit / Schönster Augenblick Im Morgenlicht (Blick von der Autobahn in Richtung Süden)
europabruecke__dsc1370Warum man immer dran vorbeifährt:  a) Der Rastplatz ist wieder grauenhaft überfüllt  b) Es sind nicht mal mehr 50 Kilometer bis zum ersten Espresso in Italien  c) Der letzte unfreiwillige Halt, als an der Abkassierstelle gerade 8 Euro Extra-Maut zu zahlen waren, steckt einem noch in den Knochen.

Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin muss!  Weil von hier
oben zum Beispiel das benachbarte Naturdenkmal Erdpyramiden so schön zu sehen ist. Andererseits: Die Kirche selbst ist Grund genug. Der Architekt Hubert Prachensky hat in den sechziger Jahren das Natursteinmauerwerk der Kapellenfassade raffiniert mit Glas aufgebrochen. europabruecke_9251423-1So kann selbst von draußen der auf den Stufen Sitzende durch ein mittiges Fenster das Innere betrachten. Oder tolle Panoramablicke auf das Wipptal und die ehemals – bis 2004 – höchste Autobahnbrücke Europas werfen. Man sieht sehr gut die Ortschaft Patsch gegenüber, mit den Almen und Berggipfeln, etwa dem Patscherkofel dahinter. Größter Kapellenschatz: Die Fresken Karl Plattners an Außen- und Innenwänden, von 1964. Der Südtiroler hat darin motivisch einen Bogen vom Bau der Europabrücke (1960–63) zu Christophorus und Nepomuk, den beiden Schutzheiligen der Reisenden und der Brücken, geschlagen.

Wie man hinkommt: Brennerautobahn, Ausfahrt Schönberg, Parken bei den Raststätten. Dann auf den Hügel steigen (etwa 200 Meter).

copyright für Idee, Text und Fotos: Alexander Hosch & Sabine Berthold

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Nietzsches Weg nach oben

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Man vergisst oft, dass die Alpen bis ans Mittelmeer reichen. Hier aber nicht, dafür ist es zu steil. Der Aufstieg von Èze-Bord-de-Mer direkt an der Côte d´Azur nach Èze-Village in den Felsen darüber wurde 1883 durch Friedrich Nietzsche veredelt. Er beflügelte den Philosophen zum Finale vignette_alpenstaunenseines berühmtesten Werks. „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger“, verkündet sein Zarathustra zu Anfang des dritten Teils, „ich liebe die Ebenen nicht.“ Also hinauf! An der Côte, wo Nietzsche zwischen 1883 und 1887 fünf Winter verbrachte, wurde das malerische zweigeteilte Dorf zwischen Nizza und Monaco sein Lieblingsort. Die südlichen Felsen der Alpes-Maritimes steigen über Èze dramatisch auf 700 Höhenmeter an. Dort wanderte Nietzsche vom Bahnhof unten am Meer immer wieder in den mittelalterlichen Ortsteil hinauf – stets den gleichen Pfad wählend. Und beobachtete, wie das Gehen sein Denken veränderte. Wie der Aufstieg die Gedanken erhitzte. Und gleichzeitig klärte.

Natürlich haben sie in Èze den paradiesischen Pfad zwischen Palmen, Kräutern, Büschen, Felsen, Himmel und Mittelmeer längst nach dem hier img_8935schöpfenden deutschen Dichter benannt. So kann der Spaziergänger, wenn er denn will, den eineinhalbstündigen Aufstieg ganz als Ausflug in die nietzscheanische Seelenlandschaft zwischen Erhabenheit und Unendlichkeit erleben. Andere werden vielleicht lieber die Prunkvilla des Stabhochsprungweltrekordlers Bubka am Wegesrand bewundern. Oder ganz oben das Superluxushotel Château Chèvre d´Or  betrachten, in dem hier immer die Promis absteigen. Wenn schon, das stört keinen großen Geist.

Wie sprach nochmal Zarathustra? „Und was mir nun noch als Schicksal und Erlebnis komme, ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selbst.“ Klingt eigentlich recht bodenständig und gemittet. Womöglich hat der bergsteigende Nietzsche da in Èze, bevor er dies schrieb, einfach die Frühform eines echten Flow erlebt. Alexander Hosch

Chemin de Nietzsche, 06360 Èze, Côte d´Azur, Alpes-Maritimes, Info: Tel. +33 4 93 41 26 00, www.eze-tourisme.com

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Klar, man könnte durch die Alpen ganze Nietzsche-Pfade hauen! Von Sils Maria im Engadin bis an die Côte d´Azur, wo er überall dichtete,. Und weiter durchs Piemont nach Turin, wo ihn ab 1889 der Wahnsinn umnachtete. Am schönsten ist es auf dem Chemin de Nietzsche in Èze, hier der Blick nach unten und auf den Horizont.

Die bunte Spirale von Rovereto

5b_rovereto3_dsc3590Und schon wieder dran vorbeigefahren! Entlang der Alpen-Magistralen gibt es überraschende neue Architekturen. Und schöne ältere, die jeder zu kennen glaubt, obwohl kaum einer je dort angehalten hat. Wir haben sie besucht.  Straßenrandperle #5

Objekt Spiral-Kunstwerk auf einer Verkehrsinsel / Ort Kreisverkehr (Rotatoria) bei Rovereto Süd, gleich  neben der Autobahn zwischen Trient und Verona, Via per Marco, Trentino, Italien / 5b_rovereto_dsc3589bKoordinaten N 45°51.028’, E 011°00.097’ / Bauzeit 2008 / Bau-Grund Unsere wuchernde Autobahnausfahrts-Ornamentik muss schöner werden! / Aktuelle Nutzung Nur die Ankunft in der Region versüßen / Öffnungszeiten Kein offizieller Zugang – im Prinzip kann man jederzeit in den leeren, offenen Innenraum / Schönster Augenblick Wenn man rundherum fährt und die kleinen Mosaikfliesen vor der Bergwand aufblitzen

Warum man auch in diesem Sommer wieder dran vorbeigefahren ist:  Superinteressant… aber keine Ahnung, was das ist und wofür es dienen könnte… Ein Amphitheater vielleicht? Die farbige Haut lenkt so schön vom Wirrwarr der Straßen hier ab. Leider keine Chance zur Besichtigung, denn man muss doch immer entweder schleunigst an den Gardasee beziehungsweise wieder nach Hause zurück.

5a_i_rovereto1_dsc3592Weshalb man nächstes Mal unbedingt hin sollte:   Im Herbst und Winter, wenn viele Alpenburgen geschlossen sind, rücken die Perlen der Täler in den Blick. Genau da, wo der Reisende von der Brennerautobahn immer Richtung Riva abbiegt, wurde vor acht Jahren das Durcheinander der Zubringerstraßen aufgewertet. Gemeinsam mit dem 2002 eröffneten MART (Museum für moderne und zeitgenössische Kunst in Trient und Rovereto) setzte die Brennerautobahn AG an dieser touristischen Schlüsselstelle ein unübersehbares Kunst-Signal. Ein polychromses Mosaik aus 300.000 5b_rovereto_dsc3589unregelmäßig gebrochenen Keramiksplittern stellt Menschen, Berge, Flüsse und Bäume des Trentino dar. Barbara Tamburini aus Arco übertrug den Entwurf Enrico Ferraris auf eine sich über 135 Meter spiralig windende, bis zu acht Meter hohe Mauer. Die abstrahierten Darstellungen sind voller futuristischer Anklänge. Rovereto war für diese Stilrichtung unter anderem deshalb wichtig, weil 1919 der Futurist Fortunato Depero in die Stadt kam und hier vierzig Jahre lang an Bildern, Skulpturen, Möbeln oder Stoffen arbeitete. Sein früheres Wohnhaus wurde 1960 zu seinem Museum, Deperos Nachlass besitzt und verwaltet heute das MART. Zurück zur Spirale: Den Eindruck des Verwischten (sfumato) erzeugte Barbara Tamburini durch die Verwendung der Trencadis-Technik von Antoni Gaudí (1852–1926). Sie erlernte sie bei ihrer Mitarbeit an der Sagrada Familia des vignette_strassenrandperlen4spanischen Jugendstilarchitekten, einer Kirche in Barcelona. Die vor 150 Jahren begonnene Sagrada ist bis heute unvollendet. Dieses Werk in Rovereto war jedoch zum Glück nach acht Monaten fertig.

Wie man hinkommt   Von der A 22 (Rovereto Sud) Richtung Riva und Gardasee abfahren. Man umrundet, bevor es über die Etsch nach Westen geht, automatisch die Verkehrsinsel mit der Spirale. Parkplatz nebenan.

copyright für Idee, Text und Fotos: Alexander Hosch & Sabine Berthold

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Alfred Hitchcock: The Man Who Knew Too Much (1934)

Als Drehort sind die Alpen einsame Spitze. Doch nicht jedes Werk, das hier entstand, wird auch als Bergfilm wahrgenommen. Wir stellen Fundstücke abseits des klassischen Genres vor, vom Klischee des Helden im Fels befreit: Die heimlichen Alpenfilme #4

The Man Who Knew Too Much stellte Peter Lorre 1934 erstmals in einer internationalen Produktion vor. Der deutsche Schauspieler ist in Hitchcocks Engadin-Film höchst sehenswert (auch wenn ihn die Coverzeichnung der DVD hier irritierenderweise als Mörder „M“ in Fritz Langs gleichnamigem Schocker zeigt)

vignette_film4_rz Dieser englische 75-Minuten-Thriller entstand kurz nach der Stummfilmzeit. Und somit lange ehe der Regisseur Alfred Hitchcock seine Hollywood-Klassiker drehte. Dennoch ist The Man Who Knew Too Much schon ein echter Hitchcock geworden. In eine Spionage-Handlung wird subtil das psychologische Drama einer Londoner Familie, die ihr Kind retten will, hineingestrickt. Beim Winterurlaub in St. Moritz haben Mr. und Mrs. Lawrence (Leslie Banks und Edna Best) den charmanten französischen Skispringer Louis kennengelernt, der während des Tanzes mit der Ehefrau Lawrence durch ein Hotelfenster hindurch erschossen wird. Er hinterlässt ihr eine geheime Botschaft, wegen der aber dann ihre Tochter Betty gekidnappt wird. In London – genauer: beim Konzert in der Royal Albert Hall und bei einem Feuergefecht – löst der angehende Meisterregisseur den Plot im zweiten Teil des Films dann nach allen Regeln des Suspense auf. Zuletzt analysierte Philosoph und Psychotherapeut Slavoj Zizek in mehreren Aufsätzen, wie bravourös Hitchcock gerade in diesem frühen Film sein Konstrukt mit hintersinnigen Details anfüllte – kleine Allegorien, Symbole, Übertragungen und Traumata. Während des Tanzes mit dem Franzosen im Hotel etwa löst sich durch einen

Hier die deutsche DVD. Rechts der Regisseur, der Der Mann, der zu viel wusste gleich zweimal verfilmte. Also Vorsicht beim Einkauf: Denn die Schauplätze waren andere, und James Stewart und Doris Day mimten 1956 nicht in der Schweiz, sondern in Marokko.

Drehbuch-Kniff langsam und vieldeutig der Wollpullover auf, den Mrs. Lawrence gerade für den Fremden strickt – der Ehemann hat dem Tanzenden nämlich einfach die Stricknadel in der Sakkotasche fixiert. Den Plot fand der Regisseur übrigens so großartig, dass er ihn 22 Jahre später mit Doris Day und James Stewart noch einmal verfilmte. Hitchcock selbst, der hier den Deutschen Peter Lorre als wunderbaren Schuft Abbott international einführte, kam übrigens extrem gern zum Urlauben ins Engadin und besonders nach St. Moritz. Dort fielen ihm oft die besten Szenen ein. Und im Badrutt´s Palace (wo er 45 Jahre lang immer dieselbe Suite gebucht haben soll) hat er auch  geheiratet.     Alexander Hosch

Das einfache Leben

DSC_0204…war schon immer gar nicht so leicht. Als die Pariser Art-déco-Designerin Eileen Gray privat ab 1928 für den Urlaub einen schlichten neuen Stil in ihrem Ferienhaus E1027 bei Monaco erprobte, kam ihr bald der weltberühmte Architekt Le Corbusier in die Quere. Er wollte auch ein einfaches Leben, allerdings ein anderes. Kurioserweise fand er es genau auf dem Grundstück neben Eileen Gray. Heute werden auf Auktionen Millionen für ein frei schwingendes Original-Sitzmöbel aus dem einfachen Leben von Eileen Gray (oder aus dem von Le Corbusier) gezahlt.

vignette_alpenstaunen Da ist es ein Glück, dass seit Kurzem in Roquebrune-Cap Martin zwischen Monaco und Menton, also da wo an der Felsküste der Côte d´Azur die Seealpen endgültig ins Mittelmeer

Detail aus einer Unité de Camping - auch von LC
Detail aus einer Unité de Camping – auch von LC

übergehen, jeder für ein paar Euro dieses Ferienparadies der Moderne besichtigen kann. In einer gemeinsamen tollen Führung, allerdings nur auf Reservierung, entfalten Le Corbusiers Blockhütte „Cabanon“ von 1951 (gerade vor vier Wochen ins Weltkulturerbe gewählt) und Eileen Grays frischDSC_0081 restauriertes Ferienhaus von damals ihre Reize. Es sieht jetzt – mit Hängematte und Astralpanorama- endlich wieder wie ein kleiner weißer Dampfer der Moderne aus, muss indes im Winter dringend weiter saniert werden (wofür man noch einen big spender sucht, also bitte melden). Anschließend sollte man sich unbedingt an einem der benachbarten Strände seinen eigenen Platz fürs einfache Leben suchen – oder wenigstens, so wie der Autor – siehe unten, eine schöne Strandbar. Formidable!              Alexander Hosch

Maison en bord de mer E1027 (von Eileen Gray) und Le Cabanon (von Le Corbusier): bis in den Frühherbst täglich zwei geführte Besichtigungen von 2 ½ Stunden für je 12 Personen. Reservierungen: Association Cap Moderne, F-06190 Roquebrune-Cap Martin, www.capmoderne.com.Die große Geschichte dazu: in der Süddeutschen Zeitung vom 13.8. („Die Frau vom Meer“, Feuilleton).

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Noch ein verstecktes Paradies in Cap Martin. Tipp: Rund 1000 Meter von E1027.

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Aromatherapie für die Augen

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Es ist nur zwei oder drei Stunden am Tag schön, so wie den ganzen Juni über? Macht nichts, das reicht, wenn man in München wohnt: Einfach mittags im Internet das frisch vignette_alpenstaunengepostete Bild eines Freundes vor Eibsee und Zugspitze entdecken. Begeistert sein. Kurz entschlossen in nur sechzig Minuten selber nach Grainau hinter Garmisch fahren. In weiteren fünfundsiebzig Minuten zum Eibsee hochwandern. Am See-Ufer riecht es dann so herrlich nach Zeder, als wäre man am südlichen Mittelmeer. Ist der Duft etwa echt hier heimisch – oder hat nur jemand dieses angesagte neue Grillholz gekauft? Egal. Reinspringen, Panorama mit Zugspitze und Stand-Up-Paddler genießen, wieder runterlaufen, heimfahren. Geht alles locker bis zum Abendessen. Und wochentags garantiert ohne Stau. Beim Abstieg an der wunderschön in der Etappe gelagerten Almblumenwiese noch eine Prunella vulgaris (Kleine Braunelle) pflücken, für den nächsten Fotostudio-Tag.         ah

Prunella vulgaris von einer Almwiese unterhalb des Eibsees
Prunella vulgaris von einer Almblumenwiese unterhalb des Eibsees, gefunden am  12. Juni 2016