Meister des Alpenveilchens

Die Alpenveilchen, auch Zyklamen genannt, haben es gern ein bisschen schattig und gehören als Pflanzengattung in die Unterfamilie der Mysteriengewächse. Und da sind wir dann schon ganz nah bei jenem üppigen Stoffmuster, das Hermann Obrist im Jahr 1896 auf einem Wandbehang mit Alpenveilchen in der damals viel beachteten Schaufensterauslage des Kunst-Salon Littauer zeigte: Eine goldfarbene Seidenstickerei prangte auf einer fast zwei Meter hohen Stoffhülle aus Wolle. Prompt wirkte der opulente Kurvenschwung auf die Passanten am Münchner Odeonsplatz wie eine Dynamitladung. Der Entwurf wurde sogleich stilistisch mit einem Peitschenhieb assoziiert. Und, schwups, war aus einem hübschen Ornament das Gründungsmanifest des Jugendstils geworden. Im behäbigen Münchner Gestaltungseinerlei kurz vor der Jahrhundertwende mit seinen vielen Neostilen kam dieses Fanal wie gerufen. Nun ist dies goldene Alpenveilchen, kaum 200 Meter entfernt von da wo alles anfing, nach langer Zeit wieder in einer Ausstellung zu sehen.

Alpenveilchen sind Primelgewächse und vor allem im Mittelmeerraum, in den Süd- und Ostalpen zuhause. In der Tat war Obrists florale Etüde aber mehr ein abstraktes Symbol als eine realistische Vorlage. Die Stickerin Berthe Ruchet hatte es aus dem Helldunkelkontrast eines zwischen Licht und Schatten changierenden Seidenfadens komponiert. Ungewohnt kraftvoll, überschwänglich, fast übertrieben schnörkelig. So setzten sich Obrists gezeichnete oder gestickte Feuerlilien und andere zarten Blumen früh als Inbegriff des Jugendstils durch und in Szene. Sie wurden Zeichen für die Abkehr von Industrialisierung und grauer Vorstadt sowie für die Zuwendung zu einer neuen schwelgerischen Epoche, die dem Historismus in Architektur, Kunst und Kunsthandwerk den Kampf ansagte.
Aber waren die Münchner Jugendstilkünstler etwa alle Naturburschen? Keineswegs. Es ging mehr um Eskapismus und eine Flucht nach innen. Typische Motive waren schöne Frauen mit wallenden Haaren, atemberaubend attraktive oder grotesk geformte Tiere, Mischwesen. Oder bunt stilisierte Pflanzen, die in Form von Möbeln, Leuchtern oder Kerzenhaltern mit girlandenhaften Extremitäten eine herbeigesehnte Natur spiegelten. Ihre Naturerfahrung fanden Maler wie Franz von Stuck, Karikaturisten wie Thomas Theodor Heine, Architekten wie Martin Dülfer und Theodor Fischer eher im Salon als in der Wildnis. Ihre Kunst war ein städtischer Stil – so etwas wie die Urban Art der Jahre um 1900. Auch ihre auf Fassaden in Schwabing, am Harras, auf der Ludwigshöhe, in der Maxvorstadt projizierten Tiere und Lebewesen – Drachen, Lindwürmer, Nixen, Elfen – stammten eher aus Fabeln und Sagen als aus dem realen heimischen Wald. August Endells berühmte farbige Wanddekoration, die – bis die Nazis sie 1939 abschlugen – das Fotostudio Hof-Atelier Elvira an der Von-der-Tann-Straße zierte, wurde von Bühnenbildnerinnen jetzt extra für die neue Schau farbig und in Originalgröße nachgebaut. Beispiele für eine reale alpine oder voralpine Kultur gibt es aber auch – etwa das Gemälde einer Bootsfahrerin von Leo Putz oder Plakate nebst Gefäßen, die an die Jugendstilzeit in den Keramischen Werkstätten in Herrsching am Ammersee erinnern.

Wie die meisten der 450 Exponate in der seit gestern offenen Ausstellung Jugendstil. Made in Munich in der Münchner Kunsthalle stammt Hermann Obrists Wandbehang aus dem Besitz des Stadtmuseums, das derzeit wegen Renovierung geschlossen ist. Die von Hängepflanzen zugewucherten Höfe rund um die Kunsthalle München sind deshalb jetzt für das nächste halbe Jahr der Idealort für Einblicke in den Münchner Jugendstil! Die Schau lässt Räume aus längst nicht mehr existenten Jugendstilhäusern der Stadt in einer Art Reenactment mit Originalinventar wiederauferstehen. Und sie organisiert im Nebenprogramm Spaziergänge zu den vielen noch existierenden Bauten aus der Zeit. Von einem mehr wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, bewerten die Aufsätze im Katalog unter anderem den hohen Abstraktionsgrad neu, der im Münchner Jugendstil angelegt war.

Der Wille, Neues und Niedagewesenes zu erschaffen, zeigte sich vor allem bei Hermann Obrist, der auch in puncto florale alpine Kultur unser Mann in der neuen Ausstellung ist. Siehe etwa in unserem Foto hier die rätselvolle Gipsskulptur Modell Bewegung von 1914, die schon als Spirale, Wendeltreppe und Muschel apostrophiert worden ist. Obrist, in der Nähe von Zürich geboren, war ursprünglich Naturwissenschaftler und Medizinstudent gewesen, ehe er sich schließlich der Bildhauerei von Grabmälern, Brunnen und Skulpturen sowie Möbeln und allerlei Stoffdesigns zuwandte. Er war zutiefst vom britischen Arts and Crafts Movement beeinflusst. In Florenz gründete er ein Stickereiatelier mit italienischen Kunsthandwerkerinnen, die er dann 1895 mit nach München brachte. Seine Motive gehen mehr als die der anderen Münchner Künstler dieser Jahre von tatsächlicher Natur aus und führen deren Formen schon ins Visionär-Expressionistische weiter: Pilze, Kristalle, mit Dornen und Blüten bewachsene Zacken, eine Felsgrotte mit loderndem Fluss und organisch wucherndes Grün bevölkern auch Obrists Zeichnungen, die zu den stärksten Arbeiten der Münchner Schau gehören. Zu sehen bis ins Frühjahr, mit all den anderen faszinierenden Mysteriengewächsen von Richard Riemerschmid, Bernhard Pankow, Otto Eckmann, Bruno Paul, Peter Behrens, Olaf Gulbransson und vielen anderen.

Text und Fotos: © Alexander Hosch

„Jugendstil. Made in Munich“, Kunsthalle München, bis 23. März 2025.

Mit Objekten aus dem Kunsthandwerk, aus Skulptur, Malerei, Grafik, Fotografie, Mode und Schmuck, www.kunsthalle-muc.de

 

Zur expressionistischen Fantasie

Kannte der Maler Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) etwa LSD? Nein, das gab es in den 1930er Jahren noch nicht. Aber womöglich hatte er andere Seelentröster, die das Gemüt entgrenzen, die Formen wuchern lassen und dabei helfen, die Farbwelten zum Explodieren zu bringen. Im Gemälde „Scene aus dem Sommernachtstraum“ von 1937, gerade zu Gast in Bernried am Starnberger See, jedenfalls ergießen sich die Pigmente gleichsam in psychedelischen Strömen. Gesichter werden darin eins mit den Bäumen, oder sie zerfließen in Linien am Firmament. Der in Nazi-Deutschland verfemte ehemalige Die Brücke-Star lebte damals in Davos und hat dort bis zu seinem Selbstmord nur ein Jahr später genau so eruptiv gemalt: leuchtend, schwelgerisch, ungebeugt. Allein schon der Blick in diese Farbexplosionen ist allemal die kleine Flucht ins Voralpenland wert, wo das faszinierende Kirchner-Gemälde jetzt zusammen mit nicht weniger als 50 weiteren bis Januar bleibt und den reichen eigenen Bestand des Museums der Phantasie mit Buchheims Expressionistenkollektion ergänzt.

In der Schau geht es in erster Linie um Bilder und ihre Rahmen. Der Münchner Rahmenexperte Werner Murrer hat dieses Verhältnis in langer Geschäftstätigkeit erforscht. Für die Ausstellung „Wiederentdeckt & Wiedervereint“ hat er jetzt mit seinen Co-Kuratorinnen Rajka Knipper und Katharina Beisiegel viele solche Gesamtkunstwerke des deutschen Ober-Expressionisten zusammengetragen. Kirchner nämlich hat die schmückenden Holzleisten um seine Gemälde stets selbst bemalt. Ohne Rahmen war ein Bild für diesen Künstler nicht fertig. Oft tauchten die Palettenfarben des jeweiligen Sujets nochmals an den Rändern, in den Spalten und Falzen auf, in feinen Tönen, manchmal auch in breiten Linien. Um sich auf den getreppten, profilierten oder mit Rundstäben verzierten Leisten als Besonderheit ins Spiel zu bringen. Rund 150 Bild-Rahmen-Paare von Kirchner sind insgesamt bekannt, viele tragen die typische Mischung aus Goldbronze mit abgetöntem Grün oder Blau. Eine der in kühlem Violett gehaltenen Wände der Sonderschau haben die Kuratoren allein mit leeren Rahmen aus Kirchners Nachlass geschmückt – denn manchmal fehlen die vor 90 bis 120 Jahren entstandenen zugehörigen Bilder. Es war die Zeit, als von vielen konservativen Bürgern selbst für moderne Sujets lieber „neobarocke Monsterrahmen“ (so Murrer in seiner Begrüßungsrede) gewählt wurden. Und Kirchners individuelle Originalrahmen – heute ein gesuchter Schatz! – mussten in solchen Fällen dann eben weg, weil sie wohl nicht zur Wohnzimmereinrichtung der Besitzer passten.

Das Ölbild „Blonde Frau in rotem Kleid“ von 1932 aber (siehe Aufmacherbild sowie zwei Ausschnitte in diesem und im mittleren Absatz) ist herrlich komplett. Es stellt hier eines der schönsten Doppelpacks aus Bild und Rahmen dar. In den schlichten goldbronzierten Nadelholz-Rahmen nahm der Künstler grüne, blaue und rosafarbene „Flecken“ und Striche aus der Farbwahl des Gemäldes mit auf und führte das Motiv auf diese Weise einfach über seineen Bildrand hinaus. Wie bei jedem anderen Auftrag hatte Kirchner die Profile selbst in seinem Skizzenbuch vorgezeichnet, die rohen Leisten in Goldbronze gefasst und diese anschließend, in Abstimmung mit dem Gemälde, bemalt. Ein Kunstwerk hörte für Kirchner – spätestens seit er 1918 in die Schweiz emigriert war – definitiv nicht mehr mit dem Bildrand auf. Kirchners spezielle Davoser Rahmen, aber auch simplere Bretter-Rahmen sowie andere Beispiele mit Stufen, Treppen und Eckverbindungen sind an den Wänden dieser überaus sehenswerten Ausstellung natürlich genau erklärt – alpine Reinkultur! Eine tolle Schau, die danach, in veränderter Form, ans Kirchner-Museum in Davos geht.

Text & Fotos © Alexander Hosch

„Wiederentdeckt & Wiedervereint. Rahmen und Bilder von Ernst Ludwig Kirchner“, Buchheim Museum der Phantasie, Bernried, bis 12. Januar 2025, https://www.buchheimmuseum.de/aktuell/2024/wiederentdeckt-wiedervereint

Samtenes Gipfeltreffen

Ein Instant-Konzert in München wäre natürlich der Wahninn gewesen. So aber wurde es immerhin eine wunderbare Überraschungsausstellung für das Haus der Kunst, die – nur Stunden vorher angekündigt – am Freitag begann. Im Geheimen vorbereitet, war sie von langer Hand geplant. Pussy Riot stellen genau dort nun bis 2. Februar 2025 im ehemaligen Luftschutzbunker des Ausstellungshauses aus (www.hausderkunst.de). Die allesamt feministischen und queeren Musikerinnen, Aktivistinnen und Künstlerinnen berichten in der Schau voller Farbenfreude und mit handgeschriebenen Wandbotschaften über ihren Velvet Terrorism, also den gewaltfreien Widerstand, der sich gegen Putins Homophobie wie auch gegen Russlands Krieg in der Ukraine richtet. Mit Videos aus Moskauer Kirchen und von Moskauer Dächern, die jetzt zwischen bunten Wänden gezeigt werden. Mit Aktionen, farbigen Masken und Klebestreifen, mit Fotos, mit Installationsgerät und mit Punkmusik protestieren sie. Was immer wieder zu Schlägen und Verletzungen, zu Arresten und Verfolgung der Protagonistinnen führt. Die samtene Rebellion von Pussy Riot gegen Putin, einen der vielen rechten Irren, die zur Zeit die Welt bedrohen, ist für die Mitstreiterinnen seit mehr als einem Jahrzehnt lebensgefährlich – auch wenn die meisten mittlerweile im Ausland leben. Putins Geheimdienstler und Kleptokraten sind aber vermutlich überall. Deshalb war die strikte Geheimhaltung der Münchner Termine bis gestern Mittag notwendig. Abends jedoch fand im vollbesetzten Terrassensaal ein Gespräch von Haus-der-Kunst-Chef Andrea Lissoni mit einigen der Akteurinnen des Kunstkollektivs statt. Widerstand gegen einen russischen Polit-Zombie von heute, im Herzen und im Keller eines Fascho-Tempels von früher – das ist eine doppelte Brechung. Die Überraschung ist gelungen, die Ausstellung sehr gut. Unbedingt hingehen!

© Text & Fotos: Alexander Hosch

Salzburger Sommerkopfkino

Auf einer kugelrunden Spezialität aus Marzipan, Nougat, Schokolade und Pistazien sitzt in jeder zweiten Auslage der österreichischen Alpenstadt der zweifellos berühmteste Kopf Salzburgs: Jener von Wolfgang Amadeus Mozart. Wer jedoch ebenso stilgerecht, aber kalorienärmer seinen alpinen Kultur- und Festivalsommer vorbereiten möchte, dem legen wir ans Herz, sich auf die paar hundert Meter vom Hauptbahnhof in die Altstadt zu begeben und dabei – alles diesseits der Salzachbrücken – noch ein paar andere alte und neue Salzburger Häupter zu treffen.
Im klassizistischen Stammsitz der Galerie von Thaddaeus Ropac etwa, der direkt am Mirabellplatz in der rechtsufrigen Altstadt gelegenen Villa Kast residiert, verblüfft der große, mit gelber Ölfarbe bemalte Bronzekopf einer Trümmerfrau aus der Serie „Dresdner Frauen“ (1990/2023). Georg Baselitz ist ihr Schöpfer. Daneben beherrscht der meist am Ammersee arbeitende deutsche Malergigant die auch die anderen ansonsten leeren Räume mit großen blauen Gemälden, die überwiegend Adler abbilden. Bis ihn dann Ende Juli ein anderer deutscher Großkünstler, Anselm Kiefer, ablösen wird. Man muss sich einfach nur trauen, den opulenten Palazzo zu betreten.
Ein anderes – im Gegensatz zur Baselitz-Skulptur – sogar ständiges Salzburger Kopfkino liefert nebenan der älteste europäische „Zwergerlgarten“ im westlichen Teil des barocken Mirabellgartens. Neben einem bildschönen Einhorn, dem Heckentheater, dem Rosengarten und 100.000 anderen (übers Jahr verteilt blühenden) Blumen ist er mit Abstand die schönste Zierde dort, Besuchende können sie im Sommer täglich von 6 Uhr bis Einbruch der Dunkelheit kostenlos durchqueren. Die 28 Zwergskulpturen aus Untersberger Marmor wurden 1695 von Erzbischof Johann Ernst Graf von Thun und Hohenstein bestellt und auf der Lodronschen Wasserbastei postiert. 1811 wurden jedoch alle Zwerge versteigert. Im Lauf der vergangenen 113 Jahre konnten 19 davon – mühsam und ganz allmählich – wieder zurückgekauft werden. Wie etwa der „Zwerg mit Kastagnetten“ ganz oben. Oder der „Zwerg mit Ball“ auf unserem größten Foto. Von noch abgängigen Zwergen künden leere Podeste. Noch immer fehlen zum Beispiel die einst von einem Künstlerkollektiv geschaffenen „Monatszwerge“ für Februar und November. Aber der „Zwerg mit dem Strohtaschenhut“ (Abbildung links unten) ist gottlob wieder da – als einer von ursprünglich fünf Duellanten wartet er im Halbschatten. So kann der Salzburger Hochsommer ruhig kommen.

Text und Fotos: Alexander Hosch

Schnitzel oder Backhendlsalat? Bärenwirt: https://www.salzburg.info › wirtshaeuser › baerenwirt

Salzburger Festspiele, 19. Juli bis 31. August 2024, www.salzburgerfestspiele.at

Villa Kast, Galerie Ropac, Di – Fr 10-18 Uhr, Sa 10-14 Uhr, https://www.ropac.net

Der Schnee von morgen

Abenddämmerung, gesehen vom Hotel Eden des Cimes aus, Belle Plagne im März 2024

Es gibt in der Architektur seit langen einen unentschiedenen Streit über die richtige Bauform in Höhenlagen. Die Mehrzahl der Funktionäre und der Baumeister forcieren die immer weitere Ausdehnung der alpinen Siedlungen in die Breite. Das führt jedoch zu noch mehr einzelnen Häusern in der Landschaft. Die andere Fraktion – in der Minderzahl – setzt sich seit mindestens Mitte des 20. Jahrhunderts für die nachhaltige und konsequente Etablierung einer Moderne in Form von Hochhäusern ein. Auch oder gerade in den Hochalpen. Das Ziel: weniger Zersiedelung der kostbaren Natur, weniger Bodenversiegelung. Und in der Konsequenz dann auch weniger Straßenbau. Vorgemacht haben das in Sestriere bei Turin etwa schon um 1940 die Architekten von zwei 16-stöckigen Rundtürmen (einer enthält heute noch das Grand Hotel Ducchi d´Aosta). Beide Türme wurden damals im Auftrag der ehemaligen Besitzer von Fiat, der Familie Agnelli, errichtet. Ebenfalls auf ein alpines Hochhaus setzte – ein gelungenes jüngeres Beispiel – vor rund 15 Jahren am Katschberg der Mailänder Architekt Matteo Thun, als er inmitten des österreichischen Tauerngebirges ein anderes Rundhochhaus für Serviced Apartments baute. Pioniere der Moderne.

Die ikonische Architektur der Skistation Plagne Bellecôte

Während in den Ostalpen Ideen von Hochsiedlungen aber immer wieder am Geld oder an der zu traditionell denkenden Bevölkerung scheiterten (so etwa Alfons Waldes Plan für eine Siedlung Hochkitzbühel), entwickelte sich Frankreichs hochalpine Landschaft nach dem Zweiten Weltkrieg progressiver: Die Staatsregierung befürwortete und förderte schon zu Zeiten Charles de Gaulles zusammen mit den Touristikern die Idee eines organisierten Frühjahrsurlaubs der ganzen arbeitenden Bevölkerung in den Bergen sowie eines  weitgehend problemlosen „Ski in, Ski out“, ohne tägliches Verkehrsaufkommen. Unterstützt vom französischen Staat bauten in-und ausländische Investoren für Einheimische und Urlauber statt unten im Tal oft lieber hoch oben auf dem Berg. Sie entschieden sich zudem häufig für großformatige Neubaukomplexe. Diese nehmen dann zwar viel Platz ein, andererseits überlassen sie aber den Bewohnern und Besuchern den ganzen riesigen Rest der Landschaft als freie Natur. Mit unverbautem Blick können die Menschen dann von drinnen das wichtigste Ziel der Reise genießen: die Berge.

Das war auch das Prinzip der elf Skidörfer rund um La Plagne in der Haute Tarentaise. Und ist es bis heute geblieben. Seit den 1960er entwickelte der Architekt Michel Bezançon dort vom Reißbrett aus neue kleine Dörfer als moderne Skistationen, die jeweils aus großen einzelnen, überirdisch und unterirdisch zusammenhängenden Gebäudestrukturen bestehen. Obwohl es gute Gründe für und auch gegen diese Bauform gibt (etwa die unübersichtlichen Tiefgeschosse, in denen kaum ein Weg oder eine Treppe von der anderen zu unterscheiden ist), befürwortet der Autor dieser Zeilen doch diese Art des alpinen Bauens als die bei weitem angemessenere Variante im Vergleich zum raumfressenden Neubau von Einfamilienhäusern in den Alpen. Denn dafür gibt es in Zeiten allmählich versiegender Schneemassen keinen einzigen ernsthaften Anlass mehr. Die Ausweisung neuer hochalpiner Baugrundstücke dient lediglich noch dem persönlichen Vorteil Einzelner, die aus unterschiedlichen Gründen in der Lage sind, ihre Interessen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen. In La Plagne aber kann im Prinzip einfach durch Ausbau – und komplett ohne Neubau – verändert werden.

Es wird in La Plagne und seinen Satellitendörfern – wie Plagne Villages oder Plagne Soleil – so wenig wie anderswo eine einhellige Ansicht über die Schönheit der großen Baustrukturen geben, die oftmals die konstruktivistischen und sozialrevolutionären Ideen ihrer Bauzeit vor 50 Jahren zur Schau tragen. Heute lassen sich jedoch besonders in den Savoyer Alpen einige wesentliche Vorzüge dieser vorausschauenden Bauweise erkennen: Erstens, die Menschen verbringen hier seit Jahrzehnten hoch oben ihren Skiurlaub. 135 Lifte erschließen die 225 Pistenkilometer des – zusätzlich noch mit Les Arcs verbundenen – absolut schneesicheren Skigebiets Paradiski, das bis auf 3.400 Meter reicht. Die Gäste wohnen also nicht wie meist in den Ostalpen unten im Tal, wo sie zur Hochfahrt oft erst einmal ihre Verbrennerautos anwerfen und dabei selbst an Weihnachten häufig die künstlich erzeugten weißen Pistenschneebänder zwischen frustrierend viel Grau und Grün erleben müssen. Zweitens, die unterirdischen Parkplätze und Zugangswege ermöglichen komplett autofreie Skistationen wie Belle Plagne, wo auf 2050 Höhenmetern die Gäste zwischen den Herbergen, Appartements, Restaurants und Geschäften bis fast zu ihrem Hotelbett wedeln können, weil ihnen bis dorthin weder Autos noch Straßen den Weg versperren.

Der nachhaltige Wert einzelner Großgebäude in den Alpen zeigt sich unter anderem darin, dass diese Einheiten nach teilweise mehr als 50 Jahren Betrieb noch immer jedes Jahr viele tausende Wintertouristen aufnehmen. Vornehmlich Familien, aber auch Freundesgruppen. Während in Deutschland die Mittelklasse damit hadert, sich das Skifahren künftig vielleicht gar nicht mehr leisten zu können. Tatsächlich bezeichnet sich La Plagne in seiner aktuellen Werbung als die Skistation mit den meisten Besuchern in der ganzen Welt: 575.000 Gäste besuchen jedes Jahr die insgesamt 11 Skidörfer, aus denen La Plagne besteht. 56.000 Betten stehen dafür zur Verfügung. Selbst in der Tarentaise, die von sportlichen, kulinarischen und architektonischen Superlativen  (Tignes, Courchevel, Meribel, Les Arcs, Val d´Isère…) verwöhnt wird, ist das einsame Spitze. Die größte der Baustrukturen von La Plagne – es handelt sich dabei um das architektonisch ikonische Plagne Bellecôte mit diversen Sichtbetontürmen – trägt seit vielen Jahren den Spitznamen Barrage. Auf französisch bedeutet das so viel wie Staumauer. Das ist natürlich Ausdruck einer gewissen Zweideutigkeit. Fest steht indes, dass „die Staumauer“ immer noch jedes Jahr von tausenden ganz normalen Franzosen, Belgiern, Engländern und Skandinaviern  bewohnt wird (allerdings nicht mehr so häufig wie früher von Deutschen). Das zweite bekannte große Gebäude des Skigebiets von La Plagne reckt wie ein Kreuzfahrtschiff seine Decks gen Himmel. Es ist dies eine Residenz auf 2100 Metern, in der Appartements, Hotelbetten, Geschäfte, Skiverleihfirmen und andere Läden zusammen untergebracht sind. Dieses – unzweifelhaft sehr elegante – Gebäude von 1969 genießt längst Denkmalschutz. Wenn es stimmt, dass die Menschen Gebäude schätzen, die an ein Tier, eine Pflanze oder an ein Ding erinnern, dann ist vielleicht der Grund dafür gefunden, warum die Menschen das Paquebot des neiges (etwa „Schneekreuzfahrtschiff“ ) in Plagne Aime 2000 sogar noch lieber mögen als ihre Staumauer. Dazu kommt der Vorteil, dass man auf dem benachbarten Gletscher Dôme de Bellecôte (3417 m) noch länger nicht ernsthaft mit Schneeknappheit rechnen muss.

Die Zukunft von La Plagne – und vor allem die der durch Höhenlage verwöhnten Stationen Belle Plagne und Aime 20000 – scheint durch den bis in den Mai zuverlässig auf natürliche Weise fallenden Schnee noch ziemlich lange gesichert zu sein. Als zweite wichtige Säule des künftigen Wintertourismus kommt ein sehr rationaler Umgang mit der Wirklichkeit des Jahres 2024 ins Spiel. Denn angemessenerweise bemüht sich La Plagne schon jetzt um die Wintersportgäste von morgen. Seit 2021 bereitet sich La Plagne intensiv auf das anspruchsvolle, von den Mountain Rivers vergebene Umweltzertifikat Flocon vert vor, das für grüne Verdienste im Skibetrieb verliehen wird. Es gibt in Deutschland, Österreich oder der Schweiz nichts Vergleichbares. Man hat den Kampf aufgenommen und ist – anders als viele Nachbarskiorte – mit einem ehrgeizigen Umweltschutzprogramm in den Wettbewerb um das grüne Siegel eingestiegen. Die Verantwortlichen haben für die Saison 2023/24 nun schon zum zweiten Mal eine 50-seitige Broschüre produziert, in der sie ihre Mitarbeiter auf Nachhaltigkeit einschwören, ihre zahlreichen Schritte in Richtung Biodiversität erklären, intensiv Gäste und Gastgeber sensibilisieren sowie ihre Maßnahmen zur Verringerung des CO2-Ausstoßes und zur Verbesserung der Qualität des lokalen Lebens skizzieren. Kreislaufwirtschaft, Reduktion von Strom und Treibstoff, Vermeidung von Mikrokunststoff im Trinkwasser sind nur einige der Ziele, die alle Lebensbereiche betreffen. Das ist umso bemerkenswerter, als viele andere Skiorte in den Alpen noch immer glauben, das nicht tun zu müssen und es an Demut vor der zu schützenden Natur mangelt.

Die Sonnenterrasse vor dem Hotel Eden des Cimes
Pistenlokal Plan Bois, im Hintergrund der Mont Blanc

Dazu kommt der ganz normale Skispaß. Ganz oben in Belle Plagne lebt man, zum Beispiel im Hotel Eden des Cimes, vergnügt in einer komplett weißen Schneelandschaft und auf Augenhöhe mit den Skigipfeln von Grande Rochette und Roche de Mio. In mondänen Pistenlokalen wie dem Plan Bois genießt man mittags zum Steak im Freien einen Extrablick auf Europas höchsten Berg, den Mont Blanc. Und nur etwas tiefer, nahe Plagne 1800, wo vor mehr als 30 Jahren die olympische Bobbahn der Winterspiele von Albertville angelegt wurde, darf jede:r den hochdramatischen Parcours mit den 19 Kurven testen.

Auf der Olympiabobrennbahn (dieses Foto und rechts).

Anders als die italienischen Veranstaltungsorte vergangener Olympiaden (und auch als einige französische wie Courchevel)  haben die Verantwortlichen in La Plagne ihre alte olympische Stätte nicht verkommen lassen. Sie nutzen sie vielmehr weiter für Wettbewerbe. Und sie geben sie – mit extra entwickelten und gesicherten Spezialschlitten – zum Gaudium der Allgemeinheit die ganze restliche Saison für jenen Teil der Bevölkerung frei, der schon lange mal Lust hatte, es den Tollkühnen in ihren beinahe fliegenden Schalen gleichzutun. Dort darf jedefrau und jedermann – eben alle, die sich trauen – eine Fahrt über die originale olympische Rennstrecke mit einem erfahrenen Bobpiloten oder einem automatisch gesteuerten Gefährt bei Geschwindigkeiten zwischen 80 und 120 km/h wagen. Olympia ist hier im Alltag der Bewohner von La Plagne angekommen. Sie sind stolz auf diese Vergangenheit. Auch deshalb hat sich Frankreich – mit Nizza für das Olympische Dorf und mit La Plagne (samt der alten als der neuen Bobbahn) – gerade wieder für die Winterolympiade 2030 beworben. Der Erfolg wäre ganz allgemein ein Segen für die Nachhaltigkeit der Olympischen Spiele.

Text und Fotos: Alexander Hosch

Der Skipass für La Plagne im Gebiet Paradiski kostet in der Saison 2023/24 pro Tag  für Erwachsene 65 €, für Kinder 52 €. Die Skisaison dauert dort noch bis zum 28. April. Das kürzlich renovierte Hotel Eden des Cimes **** in Belle Plagne bietet im April 2024 zwei Nächte mit Halbpension für zwei Personen im Doppelzimmer für 580 €. Appartements in der Residenz Paquebot des Neiges in Plagne Aime 2100 waren Anfang April auf verschiedenen Plattformen ab 98 € pro Tag zu buchen.

 

 

 

Der neue Skiglamour ist grün

Luxus im Skisport, das hieß mal: Teure Sportkleidung, schicke Hotels mit gigantischen Wellnesslandschaften – und vielleicht noch ein superber Helikopterflug in unberührte Tiefschneereviere. Vorbei.

Längst ist die Konkurrenz zwischen den Skidestinationen der Zukunft eine andere. Den feinen Unterschied bei schwindenden Schneemassen und breitflächig dokumentiertem CO²-Ausstoß macht heute die grüne Note. Aber ohne billiges Greenwashing bitte! Weiße Weihnachten können künftig eh nur noch die wenigsten Orte ihren Gästen mit Garantie verkaufen. Wer schafft es also, in kürzester Zeit nachhaltige Faktoren in sein Skigebiet zu integrieren? Wie wollen alpine Dörfer künftig die anspruchsvolle Klientel aus Europas Großstädten dazu animieren, ungeheure Summen für  ein Skiurlaubsvergnügen auszugeben, das mehr und mehr umweltschädlichen Kunstschnee benötigt, das immer noch teurer wird und gleichzeitig immer weniger als Anlass für begeisterte Gespräche unter Freuden taugt?

Der Ort Bad Hofgastein hat diesen Wettbewerb jetzt beispielsweise mit 15 großen sogenannten Solarbäumen voller PV-Module aufgenommen, die seit Sommer 2023 neben der Talstation der Schlossalmbahn herangewachsen sind. Sie sollen dafür sorgen, dass der Stromverbrauch dieser Gondelverbindung schon bald komplett aus erneuerbaren Quellen stammt. Zudem können hier E-Fahrzeuge aufgetankt werden, während man über die Pisten carvt – sei es das eigene Auto oder ein Leihwagen aus der E-Car-Kollektion der Gasteiner Bergbahnen. Solche News werden im Wettstreit zwischen den alpinen Skiorten vielleicht schon bald den Ausschlag geben.

Neuen Luxus herkömmlicher Machart gibt es auch noch, nebenan in der Kurlandschaft von Bad Gastein. In einem Ort, wo täglich reichlich heißes Wasser als erneuerbare Energie direkt aus dem Felsen kommt, macht das immerhin auch künftig Sinn. Deshalb hat zu Beginn des Jahres 2024 das „Badeschloss“ aufgemacht – ein 13 Stockwerke hoher Hotelturm, der seit kurzem als „künstlicher Felsen“ aus vorgefertigten Betonteilen dem Häusermeer entragt. Er vermittelt zwischen der alten Zuckerbächerpracht der Barockfassaden und dem hier im Salzburger Land durchaus auch vorhandenen Architekturkonstruktivismus der 1970er Jahre. Gelungen und mutig. Aber nix für Spießeridyllen.

Den vollen Charme kann das neue Hotel Badeschloss jedoch erst entfalten, wenn auch der sogenannte vertical link Wirklichkeit ist. So heißt ein für 2025 geplantes, aber wohl erst später zu realisierendes Projekt für ein kilometerlanges unterirdisches Förderband, eventuell mit Rolltreppen, das den Ortskern beim berühmten Wasserfall mit dem sehr viel höher gelegenen Bahnhof und der Stubnerkogelseilbahn verbinden wird. Eine grüne und soziale Idee, für die aber noch viel Bautätigkeit nötig ist. Danach kann jede:r die hier extrem steilen Strecken von den Hotels zu den Zügen und Liften samt Kindern und Skiausrüstung bequem als Fußgänger bewältigen. Statt, wie bisher, per Auto.

Natürlich gibt es auch im Skisport jede Menge Gemüter, die auf Neuerungen nicht die geringste Lust haben und lieber Teil des Problems bleiben, als zur Lösung beizutragen. So wie heute wird der alpine Skisport in Höhenlagen unter 2000 Metern aber schon aus physikalischen Gründen spätestens 2035 nicht mehr funktionieren. Garantiert nicht. Deshalb versuchen jetzt viele Alpendörfer alles, um ihren Teil des Kuchens zu behalten. Flaine in den französischen Alpen wollte bis vor kurzem einen sogenannten Tal-Lift  bauen, um alle Verbrennerautos von seinen Hochstraßen zu verbannen. Leider gescheitert: zu teuer. Österreich intensiviert gerade bundesweit den Schienenverkehr, um ab 2026 Alpenorte mit der doppelten Frequenz an Zugverbindungen über Salzburg oder Klagenfurt zu erreichen. Vielversprechend.

Nicht alle Dörfer können gewinnen. Die Mehrzahl der Skikunden in den Ostalpen werden neben Einheimischen – wohl die Deutschen und die Skandinavier bleiben. Und Bürger dieser Länder waren in den letzten Jahrzehnten in puncto Nachhaltigkeit die forderndsten Europäer. (Von Malmö nach Salzburg wurde vor zwei Jahren sogar extra eine neue Nachtzuglinie für Wintersportler kreiert.) Viele von ihnen werden – wenn sie die Wahl haben – auch in künftigen Alpenurlauben regionale Küche und öffentliche Anreise wählen. Dazu weiße Skihänge, die auf natürliche Weise beschneit werden – und aus genau diesem Grund auch ziemlich grün sind.

Text und Fotos: Alexander Hosch

Geniale Schwünge und Aussichten

Kennen Sie die Zeno 3? Das ist eine nach dem italienischen Abfahrts-Olympiasieger von Oslo 1952 benannte, über weite Strecken blaue Piste in Abetone, die auf dem Grat des Gomito beginnt, um dann im unteren Teil in einen toskanischen Buchenwald einzubiegen. Keine 90 Kilometer vor Florenz! Solchermaßen geht es zu in diesem Buch. Und auch in der Ukraine, in Georgien und Rumänien, in Andorra, in Lappland und auf Zypern, auf Island oder Sizilien erwartet man vieles – aber eigentlich keine Skiabfahrten. Wirklich nicht? Doch, doch! 111 Skipisten in Europa, die man gefahren sein muss heißt jetzt ein Werk aus dem Emons Verlag, das es besser weiß. Die „111er Reihe“ aus der Kölner Bücherschmiede versammelt immer wieder ein paar echt originelle und zeitgemäße Reise-Ideen, um Leser zum Träumen zu bringen. Und führt sie – wie in diesem Fall – zu kuriosen, krassen oder denkwürdigen Abfahrten überall in Europa. Einmal sogar auf einen aktiven Vulkan! Die – natürlich nicht versicherbare – Sechsergoldelbahn am 3.357 Meter hohen Ätna wurde 2021 erst neu errichtet (nachdem der Vorgängerlift mal wieder von der Naturgewalt zerstört worden war).
Ein schottisch-schwedisch-deutsches Skifahrer-Dream-Team war hier, jeder auf eigene Faust, unterwegs. Die drei Autoren Christoph Schrahe, Jimmy Petterson und Patrick Thorne arbeiten seit vielen Jahren – und jeweils mit leicht differierenden Rekordambitionen – daran, hunderte Skiparadiese auf allen Kontinenten unter ihre Bretter zu kriegen.

Natürlicherweise interessieren sich Alpine-Kultur-Fans hier am meisten für besondere Hänge, die sich irgendwo zwischen Nizza und Ljubljana verstecken. So ist für Bayern im neuen Band die Garmischer Gletscherabfahrt ausgewählt, während in Balderschwang die FIS-Standard-Strecke mit ein paar knappen und launigen persönlichen Sätzen vorgestellt wird. Viele deutsche, österreichische und Schweizer Pisten waren indes schon im ersten Skipisten-Band der Reihe zu finden, sodass innerhalb des Alpenbogens diesmal eher Geheimtipps in Frankreich, Italien, Slowenien zum Zug kommen.

Blick aus einem Hotel der Skistation Flaine auf die „Faust“-Piste hoch über der Waldgrenze. Unten eine Liftsituation in Flaine mit der Architektur von Marcel Breuer.

Da wir in den französischen Alpen die meisten der Pisten selber kennen, wollen wir hier besonders den 13 ausgewählten Skipisten in den Savoyer Alpen huldigen, sie illustrieren und für die nächste Skisause wärmstens empfehlen: Die Auslese der Autoren reicht von dem legendären 19 Kilometer langen Gletschertraumtrip namens „Vallée Blanche“ hoch über Chamonix über die „Reblochon“-Piste in La Clusaz und die „Combe de Caron“ bei Val Thorens bis zur „Sistron“ im südlichen Isola 2000 (von der aus man aufs Mittelmeer blicken kann). Die „Faust“ über dem Retorten-Skiort Flaine ist eine breite Genusspiste im Grand Massif (nahe des Genfer Sees), die zu zwei Dritteln über der Waldgrenze liegt. Sie gewährt einen genialen Blick hinunter auf Marcel Breuers „Bauhaus-Dorf“, das die vielleicht überraschendste Skistation der Welt darstellt. Die Topographie zeigt typische Felsbänder aus Kalk und Sandstein, die hier überall spröde den Schnee durchbrechen. Bei schönem Wetter überragt der Mont Blanc die Szenerie.

Unterwegs in der Seilbahn zwischen den Dörfern von Les Arcs. Unten rechts der Blick auf Arc 2000. Ganz unten ein Wegweiser im Skigebiet Paradiski mit Richtungsangabe zum Gipfel Aiguille Rouge samt der berühmten schwarzen Piste.

Die „Aiguille Rouge“-Abfahrt vom gleichnamigen Gipfel (3226 Meter) ist ein weiterer Skihöhepunkt der Westalpen. Zwischen und über den Skistationen Arc 1800 und Arc 2000 in der Winterlandschaft der Tarentaise beginnt oben am Lift keine geringere Versuchung als die längste schwarze Skipiste der Welt. Zum Glück gibt´s auch ein paar rote Ausweichstellen. Kein Wunder also, dass hier lange auch eine Speed-Skiing-Strecke existierte, auf der Weltrekorde jenseits der 250 Stundenkilometer erzielt wurden. Seit ein paar Jahren wird genau dieses Areal von einer Zipline / Seilrutsche erschlossen, die Passagieren einen 70-sekündigen „Flug“ über das Areal bei Tempo 130 ermöglicht.

Wer also gern Ski fährt und dabei auch noch am liebsten immer völlig unterschiedliche Landschaften genießen möchte, der liegt mit diesem Buch – nicht nur was die Alpen anbelangt – goldrichtig.

Text & Fotos: Alexander Hosch


 

 

 

 

Das neue Buch:

Christoph Schrahe, Jimmy Petterson, Patrick Thorne: 111 Skipisten in Europa, die man gefahren sein muss, Verlag Emons, 18 €, www.emons-verlag.de 

 

Skirausch ohne Schneekanonen

Wo können Skifahrende ein Vier-Länder-Panorama mit freiem Blick auf 400 Alpengipfel genießen? Am goldenen Gipfelkreuz der Zugspitze. In Deutschland ist diese Aussicht ziemlich einzigartig. Top of Germany heißt das kleine Skigebiet hoch über Garmisch-Partenkirchen. Jeden Spätherbst vermummt sich das hochalpine Terrain hier für mindestens ein halbes Jahr ganz in Weiß. Gleich von drei Seiten können die Pistenfans es mit Seil- oder Zahnradbahnen erreichen. Und übrigens kommt das kleine Skigebiet da oben völlig ohne Kunstschnee aus.

Damit möchte ich euch zu Beginn der Skisaison das neue Schneelust-Buch von Polyglott ans Herz legen. Andreas Lesti von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ist der Herausgeber. Und sieben Autor*innen, die zusammengerechnet wirklich schon sehr, sehr viele Alpenpisten hinuntergefahren sind, empfehlen 30 Ski-Orte in Europa, in denen die Nachhaltigkeit und ein achtsamer Umgang mit der Natur auf einem besonders guten Weg sind.

Ich durfte einer davon sein und für Schneelust unter anderem Garmisch-Partenkirchen porträtieren. Dort gibt es gleich mehrere Skiarenen. Ich war besonders vom unabhängigen kleinen Zugspitzskigebiet hoch oben angetan. Schon weil es zwischen Schneefernerkopf (2.874 m), Wetterwandeck (2.698 m) und Zugspitzplatt (2.600 m) keine einzige Schneeflocke aus künstlicher Produktion gibt, was eine Seltenheit ist in den Alpen. Lanzen und Schneekanonen wurden hier gar nicht erst aufgestellt. Man kann also nur fahren, wenn es genug geschneit hat. Das ist hier trotzdem ziemlich oft der Fall, in der Regel bis in den Mai.

Neun Aufstiegshilfen gibt es im Zugspitzskigebiet, und seit zwei Wochen kann man nun alle 20 Pistenkilometer befahren. Anfang Dezember wurden u. a. die Skilifte Sonnenkar, Wetterwandeck und Weißes Tal geöffnet, die hier nun alles erschließen. Außerdem erweist sich ein malerischer Winter-Rundwanderweg als zugänglich, die Familienrodelbahn am Gletscher ist auch in Betrieb. Da bereits am ersten Skiwochenende die Skikarten ausverkauft waren, empfiehlt es sich – wenn möglich – lieber wochentags zu kommen und außerdem für Tage, an denen viel Zulauf absehbar ist, die Tickets online zu buchen (www.zugspitze.de).

Letzten Samstag ist zusätzlich die Abfahrt Riffelriß erstmals geöffnet worden. Dabei handelt es sich um einen nicht regelmäßig zugänglichen Superskispaß am Fuß der Zugspitze – erreichbar mit Tourenski oder per Zahnradbahn über die sogenannte Bedarfshaltestelle Riffelriß. Im oberen Bereich führt diese Abfahrt in den freien Skiraum. Die wilde Felskulisse dort mit den steil aufschießenden Riffelwänden kann man als sensationell bezeichnen. Vom Endpunkt eines natürlichen „Tunnelfensters“ aus lockt der Blick hinab auf den Eibsee. Eine Tour für Feinschmecker*innen!

Und los geht’s mit dem Skispaß! Heute früh ist nun auch der Saisonauftakt im größeren Skigebiet Garmisch-Classic weiter unten erfolgt. Ideal am Skiziel Garmisch-Partenkirchen: Man braucht zum Beispiel von München aus bis direkt an die Zugspitzskilifte garantiert kein Auto!

Demnächst schreibe ich euch ein paar weitere Spezialtipps auf, wie man künftig noch mit gutem Gewissen in die Berge fahren kann. Etwa ins Gasteiner Tal oder nach Isola 2000. Das sind meine beiden anderen Texte in Schneelust, dem neuen Standardwerk über geeignete Plätze für nachhaltiges Skivergnügen in den Alpen.

Text & Fotos: Alexander Hosch

Schneelust. Die schönsten Ziele für nachhaltigen Wintersport in Europa, herausgegeben von Andreas Lesti, 2023, mit Beiträgen von Titus Arno, Thomas Biersack, Stephanie Geiger, Alexander Hosch, Andreas Lesti, Barbara Schaefer, Christoph Schrahe.

ISBN 978-3-8464-1000-4

Verlag Polyglott / Gräfe und Unzer, 29 Euro

 

Zu den Anfängen

Werner Bätzing hat gerade eine umfassende Mensch-Umwelt-Geschichte vorgelegt. Unsere Gattung tritt darin titelgebend als ein Clan von Zerstörern auf. Der Zustand der Natur und der miserable Umgang des Menschen mit ihr stehen im Vordergrund. Die so faszinierende wie universale Welterzählung, welche der Autor auf 462 Seiten entwirft, schöpft aus vielen Wissensgebieten. Sie ist – bei aller inhaltlichen und intellektuellen Komplexität – in einfacher Sprache verfasst. Die Hypothesen sind mutig und klar. Eine davon lautet, zugespitzt: Mit der Geschichte der Stadt beginnt die Geschichte des Krieges und auch die des Raubbaus an der Natur. Eine andere klingt so: „Um die drohende Zerstörung der vom Menschen geprägten Welt zu verhindern, ist es nötig, dass wir einen Schritt zurückgehen und die vormodernen Erfahrungen wieder stärker berücksichtigen“.

Bätzing startet quasi vor acht Millionen Jahren, streift den Homo sapiens, analysiert Selbstvorsorge und Überschusswirtschaft, vergleicht Jäger und Sammler mit Bauernkulturen und den ersten Großsiedlungen vor 3000 Jahren, bewertet, welche Bedeutung das Auftauchen von Demokratie, Schrift, Münzen oder Schulden zur Zeit der griechischen Polis hatte. Und so fort.

Was das alles mit den Alpen zu tun hat? Nun, der Autor ist seit fast 50 Jahren in erster Linie Alpenforscher. Er lehrte als Kulturgeograf an den Unis Bern, Wien und Erlangen-Nürnberg. Viele Erkenntnisse hat er zwischen den Gipfeln von Slowenien bis Südfrankreich, hauptsächlich aber in der Schweiz, gewonnen. Sie speisen dieses Buch, das der C. H. Beck Verlag als Opus magnum preist. Hier zwei von Bätzings hochaktuellen Befürchtungen über die Alpen, die der Experte uns gegenüber vor Kurzem am Telefon geäußert hat: „Eines der größten Probleme ist die Verstädterung der Alpengemeinden. Beispiel Davos – dort lebten um 1900 noch 80 Menschen. Jetzt sind es 12 000. Und jeden Winter kommen 50 000 Touristen dazu.“ Oder: „Seit China angekündigt hat, seine Bevölkerung an den Skisport heranzuführen, ist unter 300 Skigebieten in den Alpen ein Verdrängungswettbewerb um den asiatischen Markt entstanden. In der Schweiz sieht man längst die Auswirkungen: Neue Seilbahnen in Grindelwald, am Kleinen Matterhorn, an Rigi, Titlis, Pilatus. Überall wird ausgebaut. Ein riesiger ökologischer Fußabdruck. Dabei ist Skisport in Europa eigentlich ein schrumpfendes Feld.“

Mit Homo destructor legt der 74-jährige Wissenschaftler, der heute in Bamberg lebt und ein Archiv für integrative Alpenforschung pflegt, gleichsam nebenbei eine elegante Kapitalismuskritik vor. Die meisten Mechanismen der liberalen Wirtschaftskreisläufe werden darin von ihm komplett in Frage gestellt. Etwa wenn er geistlos-repetitive Tätigkeiten von heute mit solchen von früher vergleicht – und daran erinnert, dass bei uns zu deren Bewältigung in der Frühzeit der Industrialisierung unfreie Menschen aus Gefängnissen, Waisenhäusern etc. zwangsrekrutiert wurden. (Und in den vielen, tendenziell gerade einer wachsenden Zahl von Erdbewohnern imponierenden Autokratien ist das noch immer so.) Einen Kardinalfehler sieht Bätzing in der weitgehenden Aufhebung von Gemeineigentum (wie der Allmende): Zuerst im Römischen Recht, später in Gesetzestexten, Erlassen, Bewegungen der Renaissance oder Aufklärung – und bis zu uns heute. Sie sind Beispiele für gesellschaftliche Umbrüche zum Nutzen einzelner Gruppen, unter denen aber die Mehrheit zu leiden hat. Und mit ihr leidet die Natur, die seit Entstehung dieser Weltsicht vor allem als Ressource und als Material zur Überschussproduktion betrachtet wird. Ein fast zu stilles Buch! Manchmal lieber zurückrudern zu den Anfängen? Nach dieser Lektüre besteht kein Zweifel mehr: Für Mensch und Natur wäre es gut.

Text & Fotos: Alexander Hosch

Werner Bätzing, Homo destructor. Eine Mensch-Umwelt Geschichte. Von der Entstehung des Menschen zur Zerstörung der Welt, C. H. Beck Verlag, 32 Euro

 

Zu den Gipfeln der Renaissance

Bernardino Licinio, Bildnis einer jungen Frau mit ihrem Verehrer, ca. 1520; Paris, Galerie Canesso
Tizian, Bildnis der Isabella von Portugal (Detail), 1548; Madrid, Museo Nacional del Prado

Was ist das nur für ein tolles Felsmassiv da, neben dem der Maler Tizian 1548 Isabella von Portugal porträtiert hat? Und welcher Alpenberg mag das sein, vor dem der kleine Maggi-Junge (Bild-Detail gleich unten) mit seinen Angehörigen um 1575 vor Tintoretto posierte? „Vielleicht ein ganz realer Gipfel in der Nähe des Anwesens der Familie Maggi in Feltre? Genau wissen wir es nicht“, sagt Sammlungsdirektor Andreas Schumacher, der in der Alten Pinakothek die italienischen Gemälde betreut. „Es wäre bei den Motiven dieser Ausstellung natürlich zusätzlich spannend gewesen, auch diese Details noch herausfinden!“

Tatsächlich würde das die Gebirgskunsthistoriker wie uns von der Alpinen Kultur natürlich schon brennend interessieren! Denn in der neuen Schau „Venezia 500<<“, die heute in der Alten Pinakothek in München begonnen hat, tun sich bald in jedem zweiten der rund 85 Bilder – Grafiken, Zeichnungen und Gemälde aus der Zeit der venezianischen Renaissance – unbekannte Gipfel auf. Entweder zieren sie als alpine Idealkulisse die sakralen, mythologischen oder aristokratischen Personengruppen. Oft aber bilden sie wohl ganz real die in der Nachbarschaft vorgefundene Natur ab. In der Tat ist Venedig von den Dolomiten ja nicht viel weiter entfernt als München von der Zugspitze. Und so wie sich bei uns an klaren Tagen nicht selten eine Alpenkulisse hinter der Stadtsilhouette abzeichnen kann, lassen sich unweit der Serenissima an Tagen mit günstigem Wetter zuweilen die Marmolata oder Teile der Dolomitenkette erblicken. Jedenfalls, wenn man nicht nur auf die Kirchen und in die Wasserwellen der Kanäle schaut.

Giovanni Bellini, Maria mit Kind zwischen Johannes dem Täufer und einer unbekannten Heiligen (Ausschnitt), 1500-1505; Venedig, Galleria Dell´Accademia
Giovanni Battista Cima da Conegliano, Hl. Hieronymus in der Wildnis (Ausschnitt), ca. 1500/05; Washington, National Gallery of Art

In der Schau geht es natürlich erst einmal um ganz anderes als um Bergspitzen. Die Kuratoren ließen nach vierjähriger Vorbereitung 70 Gastgemälde von Tizian, Palma il Vecchio, Sebastiano del Piombo, Mantegna, Bellini und Lorenzo Lotto aus Paris, Madrid, New York, Florenz usw. zum Vergleich nach München transportieren. Und vor allem ließen sie 15 eigene venezianische Renaissancebilder der Alten Pinakothek nach allen Regeln der Technik und der Kunst durchleuchten, restaurieren und stilistisch wie kunsthistorisch neu beforschen. Heraus kam mindestens eine Sensation: Die AP besitzt nämlich offenbar ein zweites Gemälde des genialen, schon 1510 mit nur 32 Jahren verstorbenen Venezianers Giorgione, von dem in der ganzen Welt nur etwa 20 gesichert zugeschriebene Malereien existieren.

Andrea Previtali, Allegorie der Fortuna, ca. 1490; Venedig, Galleria dell’Accademia
Bartolomeo Veneto, Maria mit Kind, ca. 1505; Bergamo, Accademia Carrara

Derweil können wir Bergfexe in der Ausstellung all die wunderbaren venezianischen Zeichnungen und Gemälde mit Hieronymus, der Muttergottes, mit verschiedenen Kalvarienbergen, mit Apollo, Adonis, der Allegorie der Fortuna oder den Adligen der Epoche nach bekannten Gipfeln und Spitzen, Ketten und Hügeln absuchen.

Kein einziges Wasserbild ist in der AP dabei! Auch keine Venedig-Vedute. Denn nie war eine Renaissanceschau über die alten Venezianer alpiner als diese Präsentation, die das damalige Verhältnis von Natur und Landschaft zu Menschengruppen analysiert.

Also welcher blaue Gipfel quetscht sich – siehe Aufmacherbild – unter die rechte Achsel des jungen Edelmanns, der um 1500 auf Bernardino Licinios Tafel von einer sich entkleidenden bella donna hingerissen wird? Was für eine Landschaft ragt da dolomitenhaft hinter Johannes dem Täufer und Maria auf? In welchem Bergdorf zwischen Venetien und Lombardei versteckte sich in dem Gemälde von 1505 Bartolomeo Venetos Maria mit dem Kind? Und was für ein schmuckes Seegebirge – anstatt der trockenen Hügel Syriens und Palästinas – umfängt den Heiligen Hieronymus in der Wildnis? – Ohne Zweifel wartet in dieser begeisternden neuen Münchner Ausstellung zur Zeit mindestens eine Doktorarbeit auf eifrige junge Erforscher der alpinen Natur und Kultur.

Text und Fotos: Alexander Hosch

Ausstellung „Venezia 500<<, Die sanfte Revolution der venezianischen Malerei“, Alte Pinakothek München, bis 4. Februar 2024

https://www.pinakothek.de/de/venezia500

Palma il Vecchio, Maria mit Kind und den hl. Rochus und Lucia, 1513/15; München, Alte Pinakothek